Elena Obreschkow vom Initiativkomitee der Stipendieninitiative. Nina Kunz

«Egal, wie viel es kostet»

Für alle Studierenden sollen die gleichen Kriterien bei der Vergabe von Stipendien gelten. 2012 reichte der VSS die Stipendieninitiative ein. Elena Obreschkow vom Initiativkomitee erklärt, warum das heutige Stipendiensystem unfair ist.

29. März 2014

122 Lämpchen blinken rot auf, nur 55 grün. Am Mittwoch, dem 19. März, kurz nach 18 Uhr, steht fest: Nach dem Bundesrat empfiehlt auch der Natio­­nalrat die Stipendieninitiative zur Ablehnung. Die Vorlage will, dass alle Studierenden in der Schweiz die gleichen Chancen haben, Stipendien zu erhalten. Diese sollen einen minimalen Lebensstandard sichern. Das heisst, dass keine Person in Ausbildung mit weniger als 2000 Franken im Monat auskommen muss. Zurzeit gibt es keine einheitlichen Kriterien, die bestimmen, welche Personen wie viel Geld erhalten. Nationalrat Christoph Mörgeli (SVP) stimmte gegen die Initiative. «Ein Student wohnt halt möglicherweise in seinem Kinderzimmer, er hat nicht Anrecht auf eine Drei-Zimmer-Wohnung.» Die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats (WBK-N) hat einen Gegenvorschlag verfasst. Dieser sieht vor, dass ein Vollstipendium höchstens 16 000 Franken beträgt. Für Lea Oberholzer, Mitglied der Geschäftsleitung des VSS (Verband Schweizer Studierendenschaften), ist das zu wenig. «Ein Studium an der HSG kostet beispielsweise 2400 Franken im Jahr, da bleiben noch 1100 Franken im Monat zum Leben. Damit muss alles bezahlt werden. Das ist inakzeptabel.» Der Nationalrat sagt Nein zur Initiative und macht sich stark für einen Gegenvorschlag, der alle Forderungen der Initiative abschwächt. Der VSS ist enttäuscht.

Weniger Geld für Bildung

Der Bund gibt immer weniger Geld für Bildung aus, gemessen an den steigenden Studierendenzahlen. Heute schreiben sich dreimal mehr Personen an einer Universität oder Fachhochschule ein als noch 1990. In der selben Zeit haben sich die Bildungsausgaben lediglich verdoppelt. Spart der Bund bei der Bildung, sei die Chancengleichheit nicht gewährleistet, kritisiert der VSS. Der Bildungsbericht Schweiz 2010 zeigt, dass Kinder aus Akademikerfamilien bessere Chancen haben, zu studieren. Ein Grund dafür sei, dass durchschnittlich die Hälfte des Einkommens der Studierenden von den Eltern komme. Wer die Mietkosten und Semestergebühren nicht bezahlt bekommt, muss selbst Geld verdienen. Heute haben drei von vier Studierenden einen Nebenjob. Die Einen arbeiten nur in den Semesterferien, die Anderen mehrmals in der Woche. Studierende, die viele Stunden pro Woche im Büro statt an der Uni verbringen, haben weniger Zeit zum Lernen. Zudem entscheiden sich junge Menschen auch gegen ein Studium, weil das Geld nicht reicht. Der VSS beschäftigt sich seit über 60 Jahren mit dem Problem. Bereits 1949 entwickelte der Verband ein Projekt zur Errichtung eines schweizerischen Stipendien- und Darlehenfonds. Am 20. Januar 2012 reichte der VSS mit 117 069 Unterschriften die Stipendieninitiative in Bern ein. Ende 2014 oder Anfang 2015 wird darüber abgestimmt. Elena Obresch­kow, 32, ist Mitinitiantin des aktuellen Vorstosses. Sie ist Gewerkschaftssekretärin beim

Schweizerischen Eisenbahn- und Verkehrspersonal-Verband (SEV) und war lange Zeit im Generalsekretariat des VSS tätig. Die ZS hat sie zu den Stärken und Schwächen der Initiative befragt.

Dies ist die dritte Stipendieninitiative des VSS. Zwei Mal ist der Verband bereits gescheitert. Warum soll es jetzt klappen?

1972 ist die Initiative gescheitert, weil sie zurückgezogen wurde, und 1991, weil nicht genügend Unterschriften zusammengebracht wurden. Dieses Mal ist die Initiative zustande gekommen und auch der Bundesrat hat die Absicht, das Stipendienwesen zu überarbeiten.

Das ist zwar eine gute Ausgangslage, doch die Politikerinnen und Politiker wollen sparen. Um die Initiative umzusetzen, müsste der Bund 500 Millionen ausgeben.

Sparmassnahmen in der Bildung sind nicht sinnvoll. Die Stipendieninitiative will allen den gleichen Zugang zur Bildung ermöglichen. Das ist ein Grundsatz, an dem ein Staat festhalten muss, egal, wie viel es kostet.

Weshalb würde es eine halbe Milliarde kosten, die Initiative umzusetzen?

Die 500 Mio. kommen daher, dass heute 8 % der Studierenden Stipendien erhalten, aber 20 % der Studierenden Stipendien beziehen können sollten. Deckt das Stipendienwesen 12 % mehr Studierende ab, kostet das etwas.

Was ist das Problem am jetzigen Stipendiensystem?

Heute gibt es 26 unterschiedliche Systeme. In jedem Kanton ist alles anders: wer einen Anspruch hat, wie lange die Unterstützung dauert, wie hoch die Stipendien sind. Manche Studierende fallen zwischen Stuhl und Bank, wenn sie in einen anderen Kanton ziehen. Der alte Kanton fühlt sich nicht mehr zuständig, der neue noch nicht.

Gemessen an der Studierendenzahl, gibt der Bund immer weniger Geld aus für Stipendien. Inflationsbereinigt sind die Bundessubventionen bei den Stipendien zwischen 1990 und 2008 von 40 % auf 9 % gesunken. Hat die Bildung in der Politik an Stellenwert verloren?

Es gibt politische Tendenzen, die sich auf Wirtschaftlichkeit ausrichten. So wird Bildung als Konsumgut betrachtet. Nicht die Bildung an sich ist also unwichtig, sondern die Rolle der öffentlichen Hand darin.

Mehr als drei Viertel der Studierenden arbeiten neben dem Studium. Bei manchen verzögert sich der Abschluss. Aber das ist ja nicht weiter schlimm.

Es ist wünschenswert, dass Studierende neben dem Studium arbeiten, aber wenn möglich im Bereich der Fachrichtung und nicht bei McDonald’s. Es soll aber eine Wahl bleiben, arbeiten zu gehen. Zudem sind die Studiengänge sehr unterschiedlich gestaltet und es ist nicht immer möglich, nebenher zu arbeiten.

Der Bundesrat schlägt vor, die Initiative abzulehnen. Er findet, sein indirekter Gegenvorschlag setze die Forderungen der Initiative auch um und sei zudem günstiger.

Das Problem ist, dass das bestehende Konkordat keine materielle Harmonisierung vornimmt und es den Kantonen überlassen ist, beizutreten oder nicht. Der Bund schafft keine Anreize für die Kantone, mitzumachen.

Das Initiativkomitee möchte einen minimalen Lebensstandard garantieren. Was gehört für den VSS zum minimalen Lebensstandard?

Es gibt die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), die festlegen, wofür man Geld braucht; beispielsweise für die Wohnung oder die Krankenkasse. Man hat errechnet, dass das Leben einer studierenden Person in der Schweiz 2000 bis 2400 Franken kostet pro Monat. Ein 100 %-Stipendium soll diese Kosten decken. Dies ist der minimale Lebensstandard.

2000 Franken sind nicht wenig. Sind die Studierenden von heute verwöhnt?

Das Argument kommt immer wieder. Ich finde 2000 Franken pro Monat nicht viel, wenn alles damit bezahlt werden soll. Studierende mit wenig Geld sollen nicht vom sozialen Leben ausgeschlossen werden. Das ist ein Grundbedürfnis und hat nichts mit Verwöhntheit zu tun.

Macht es Sinn, dass alle Studierenden gleich viel Stipendien erhalten sollen? Die Lebenskosten sind ja auch nicht überall gleich hoch.

Die Unterschiede werden auch weiterhin berücksichtigt. Jemand aus Zürich, der in Neuenburg studiert, hat weniger Unterhaltskosten. Der Vollzug bleibt individualisiert, aber der Zugang zu den Stipendien soll standardisiert werden.

Die Kantone und Universitäten vergeben Stipendien nur bis zu einem Alter von 35 beziehungsweise 45 Jahren. Wieso wird das Alter in der Initiative nicht geregelt?

Chancengleichheit betrifft ja nicht nur junge Menschen. Im Initiativtext heisst es, jeder solle bis zum Abschluss der tertiären Ausbildung einen Anspruch haben, das kann auch auf jemanden mit 59 Jahren zutreffen. Geregelt wird also das Bildungsniveau, nicht das Alter. Das war Absicht. Sonst hätte sich die Debatte nachher voraussichtlich nur um die studierenden Seniorinnen und Senioren gedreht.

Wie geht es jetzt weiter mit der Initiative, nachdem der Bundesrat sie zur Ablehnung empfohlen hat?

Kommt darauf an, welche Gegenvorschläge vom Parlament ausgearbeitet werden. Kommt ein sinnvoller Vorschlag zustande, können wir 27 Mitglieder des Initiativkomitees darüber entscheiden, die Initiative zugunsten des neuen Vorschlages zurückzuziehen.

Welche Rolle werden die Studierenden im Abstimmungskampf spielen?

Viele Studierendenorganisationen an Hochschulen zeigen sich bereit, die Kampagne weiterhin zu unterstützen. Wenn sich die Studierenden engagieren, können wir die Abstimmung gewinnen.

Stipendieninitiative und Gegenvorschlag

Die Stipendieninitiative fordert, dass sich der Bund am Stipendienwesen betei­ligen soll. Bisher waren die Kantone für die Vergabe von Geldern an Stu­dierende verantwortlich. Studierende sollen bis zum Ende ihrer tertiären Ausbildung unterstützt werden. Ein Vollstipendium soll im Monat zwischen 2000 und 2400 Franken betragen, damit ein minimaler Lebensstandard garantiert werden kann. Der Bundesrat hat die Initiative zur Ablehnung empfohlen und einen indirekten Gegenvorschlag in Form des Stipendienkonkordats ausge­arbeitet. Dieses wurde am 18. Juni 2009 beschlossen und seither sind 14 Kantone beigetreten. Mit dem Konkordat soll die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen vereinheitlicht werden. Der VSS kritisiert den indirekten Gegenvorschlag, da weiterhin die Kantone alleine für ihr Stipendienwesen aufkommen müssten. Zudem kann nicht garantiert werden, dass die restlichen Kantone nachziehen werden und die Studierenden in Zukunft überall den gleichen Betrag für gleiche Lebensumstände erhalten. Auch der Nationalrat hat mit 122 zu 55 Stimmen gegen die Initiative des VSS gestimmt. Er hat einen eigenen Vorschlag ausgearbeitet, der im Gegensatz zum Bundesrat festlegt, wie hoch die Stipendien sein dürfen. 16 000 Franken sollen jährlich die obere Grenze sein. Der VSS will aber ein Maximum von 24 000 bis 28 000 Franken. Nun geht die Initiative in den Ständerat.