Die Insel Lampedusa im Mittelmeer zwischen Sizilien und Tunesien. PD

Heuchlerische Bestürzung

Lampedusa.

22. Oktober 2013

Die mediale Bestürzung und die Trauer der Politikerinnen und Politiker über das Unglück mit über 300 Toten vor Lampedusa sind scheinheilig. Sie selbst haben dafür gesorgt, dass die Überfahrt übers Mittelmeer zur einzigen, aber lebensgefährlichen Möglichkeit geworden ist, Europa zu erreichen. Weitherum wird ein Umdenken in der europäischen Migrationspolitik gefordert. Die Vorschläge erschöpfen sich aber in einem Ausbau der Migrationsabwehr und verschärfen damit nur das Problem. Der einzige Weg, um wirklich etwas dagegen zu unternehmen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, ist, die legale Einwanderung nach Europa zu ermöglichen. Die Selbstkritik der Politikerinnen und Politiker geht nicht besonders weit, obwohl die Todesfälle eine direkte Folge des europäischen Grenzregimes sind. Unter den bestehenden ökonomischen und sozialen Verhältnissen werden weiterhin Menschen versuchen, Europa zu erreichen. Die technische Aufrüstung der Grenzüberwachung drängt die Migrierenden dazu, immer gefährlichere Routen in Kauf zu nehmen. Migrationsbewegungen lassen sich aber nicht stoppen. Laut Giusi Niccolini, der Bürgermeisterin von Lampedusa, befanden sich mehrere Fischerboote in der Nähe des in Seenot geratenen Schiffes. Die Besatzungen zögerten aber, zu helfen. Sie befürchteten eine Anklage wegen Begünstigung von Schlepperei. Die Verantwortung für die Toten wird «Schlepperbanden» zugeschoben. Die Kriminalisierung macht nicht einmal vor den 155 Überlebenden halt: Gegen sie wurden Verfahren wegen illegaler Einreise eröffnet.

Das Unglück vor der Küste Lampedusas ist kein tragischer Einzelfall, es ist ein Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben – und die es in Frage zu stellen gilt.

*Fabio Weiler studiert Ethnologie. Für seine Lizarbeit über die Notstandspolitik der italienischen Regierung 2011 hielt er sich mehrere Monate in Palermo und auf Lampedusa auf.