Glühendes Bier vor pittoresken Kerosintanks. Simeon Milkovski

«Sommer der Extreme»: Höflicher Tanz im Wespennest

Das letzte Openair der Saison bat in Rümlang zum gepflegten Apéro zwischen Flughafen und Autobahn. Am Ende brannten Strohhüte.

5. September 2013

Die Kantonspolizei Zürich war zuversichtlich: «Wir glauben an ein friedliches Wochenende», sagt der bärtige Offizier zu mir, während Mike Patton sich auf der Blue Stage die Seele aus dem Leib schreit. «Schliesslich sind wir hier nicht auf Kifferjagd», fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu, bevor er per Funk die Anweisung zur Verschiebung erhält. Ich bleibe vorläufig vor der Hauptbühne, schliesslich habe ich mir vorgenommen, hier jeden Auftritt anzusehen. Vielleicht bin ich deswegen nie Zeuge von Exzess geworden. Oder ist das hier der falsche Ort dafür?

Weekend as usual

Am dritten Zürich Openair herrschte Friede in fast ungesundem Ausmass. Lärmklagen, Verhaftungen und Hospitalisierungen bewegten sich im einstelligen Bereich. Während an Festivals üblicherweise kontrollierter Kontrollverlust zelebriert wird, haben sich die Besucher des Zürich Openairs (ZHOA) im Griff. Einzig die Wespen halten sich nicht an die Regeln. Knapp 700 Stiche wurden von den Sanitätern behandelt. Sonst: Weekend as usual, mit noch längeren Schlangen vor den Toiletten.

Hier kommen keine Wildfremden zusammen, um an einem abgeschiedenen Ort die häuslichen Einschränkungen hinter sich zu lassen. Wir haben es hier mit einem Openair zu tun, das gefüllt ist mit Zürchern. Zürcher, die sich von den Nacht-ÖV in die eigenen Federn kutschieren lassen, um am nächsten Tag geduscht, frisiert und umgezogen antanzen zu können. Wo kein Schlamm und wo keine Zeltplatzromantik, da auch kein Exzess – so scheint es zumindest. Die urbane Coolness wird selbst dann hochgehalten, wenn man aus dem Plastikbecher ein überteuertes Calanda schlürft. Der Versuch, zur Band Sub Focus eine geklaute Flasche Weisswein zirkulieren zu lassen, scheitert kläglich. Niemand mag ein Probiererli – vielleicht aus Angst vor einer unheilbaren Krankheit, vielleicht ist es aber schlicht uncool, sich an einer Flasche zu laben. Ich verfluche die verklemmten Rüeblihosenträger und nehme einen zünftigen Schluck.

Sperrig und wunderbar abgefahren

Es soll aber nicht nur gemeckert werden, denn fairerweise muss man sagen, dass das Zürich Openair viel von seinen Fehlern gelernt hat. Die Bühnen sind besser platziert, das unsägliche Währungssystem abgeschafft worden. Das Programm ist gewohnt hochkarätig und vielseitig. Ein kleiner Wermutstropfen sei an dieser Stelle angebracht: Rock ist definitiv nicht, was er einmal war. Stellvertretend hierfür das Lied «Unrockbar» der Ärzte, in dem es an einer Stelle heisst «Dann hast du auch bald kapiert, dass der Rock die Welt regiert.» Das nachfolgende Outro bestreitet Bela B. hingegen am Sonntagabend mit einem funkigen Disco-Beat, der so auch bei Franz Ferdinand seinen Platz im Rhythmus fände. Die Ironie ist nicht von der Hand zu weisen.

Wenn man sich dann daran gewöhnt hatte, dass ja 2013 und nicht mehr 1999 ist, gab es erstaunlich viel gute Musik zu sehen. Besonders die Tent Stage überraschte mit einer eklektischen Sammlung von Künstlern in ihrer ersten Karrierehälfte, die mit der schwierigen Akustik oft gut zurecht kamen. Two Door Cinema Club mauserten sich mit einer energiegeladenen Show zum ersten Highlight am Donnerstagabend. Knapp 24 Stunden später verstören The Knife mit einem Anti-Konzert die vorfreudigen Fanboys und -girls. Da wurde auch schon mal zwanzig Minuten Musik ab Playback gereicht, während eine Gruppe Tänzer farbige Tücher schwangen. Sperrig und wunderbar abgefahren.

Wer den Zürchern dieses Wochenende aber am besten gefiel, war eindeutig Paul Kalkbrenner aus Berlin. Mit einer spartanischen Show brachte er das halbe Festivalgelände zum Tanzen. Die Bildschirme links und rechts der Bühne zeigten einen glatzköpfigen Mittvierziger, der mit verschmitzter Miene im Bayern-Trikot seine loungigen House-Tracks ineinander mischte. Vielleicht der einzige Moment des Wochenendes, in dem ein Funke von der Bühnen auf die individualisierte Masse überzuspringen schien. Abgesehen vom Moment, als die Strohhüte brannten.

Steriler Beigeschmack

Ein Openair ist ja auch immer auch ein willkommenes Habitat für Sponsoren. So wurden von 20 Minuten für den zehnminütigen Regenguss am Freitag grosszügig Pelerinen verteilt, welche danach mitsamt ihren Plastikverpackungen den Boden tapezierten. Junge Promogirls von Winston pilgerten unbezahlt übers Gelände und boten die wenig schmackhaften neuen Editionen feil. Kleine Lipton-Samples verstopften die Alucontainer. Mancherorts gab es für drei bestellte Biere einen Calanda-Strohhut, später musste man dann nur noch nett fragen. Als dann Die Ärzte das Publikum aus Scherz aufforderten, die Hüte anzuzünden, liessen sich einige nicht zweimal bitten. Sofort rückten alle etwas zur Seite, man will ja nicht auch noch Feuer fangen. Das ging hier auch ohne Probleme denn wie bereits erwähnt, selbst eine Kultband wie Die Ärzte vermochte keinen Grossansturm auszulösen. Selbst einige Meter vor der Bühne war noch genug Platz, um versehentlichen Körperkontakt mit Unbekannten zu vermeiden.

So stampften dann sonntags um halb Zehn die Verbliebenen brav in Reih und Glied über verkohlte Hüte aus dem Gelände, das von den vielen Helfern in seine Einzelteile zerlegt wurde. Die Organisation hat wenig falsch gemacht. Aber die Hemmung des Publikums, auch mal die Sau rauszulassen, verlieh dem ganzen Gewusel trotz ansprechender Beschallung einen sterilen Beigeschmack.