Veranstaltungsflyer der Living Library in Zürich. livinglibrary.ch/

Zu Besuch in der «Menschenbibliothek»

In der Living Library in Zürich stehen spezielle Bücher: Ein Hacker, ein orthodoxer Jude oder ein Sans-Papier. Man kann sie sich für 30 Minuten ausleihen und mit ihnen plaudern. Sind die Menschen wirklich so wie die gesellschaftlichen Gruppen, die sie repräsentieren? Die Ethnologiestudentin Rhea Braunwalder hat sich die Bücher angeschaut.

5. Juli 2013

Hingerissen zwischen Neugierde und Verlegenheit ging ich, gerüstet mit einem Interviewleitfaden und einer vordergründigen Internet-Recherche in die Menschenbibliothek. Bei meinen Gesprächen mit den menschlichen „Büchern“ durchlief ich fünf Phasen.

Phase 1: Der Empfang

Offen und gespannt stellen wir uns vor, die Menschen erzählen von sich und ihrem Alltag. Das Bauernpaar redet, wie viele Eltern zuerst über ihre Kinder, ich frage nach was die Titel, die man den Menschen gegeben hat überhaupt bedeuten.

Phase 2: Die Enttäuschung

Widererwarten entsteht der Eindruck, dass die meisten Stereotypen wahr sind. Bei einem Blick in den Raum erkenne ich den Hacker an seinen langen welligen Haaren und einem schwarzen, mit dem Linux Pinguin bedruckten T-Shirt, das Bauernpaar in den Edelweiss-Hemden, den orthodoxen Juden an seiner Kopfbedeckung.

Eine leichte Enttäuschung gegenüber dem Gespräch setzt ein, da mein Gegenüber nur das preisgibt was er einer unbekannten Person preisgeben will und ich keine Möglichkeit habe nachzuweisen, ob es auch stimmt.

Phase 3: Überdenken

War ich zu vorschnell? Die Menschen erzählen mir überraschende Geschichten von ihrem Alltag, persönliche, lustige und rührende Anekdoten: Der orthodoxe Jude bereitet sein Essen für Sabbat, dem Tag an dem nicht einmal ein Lichtschalter umgelegt werden darf, im Vorhinein vor und lässt das Gericht studnenlang köcheln. Oder er benutzt Geräte, die sich automatisch aus- und anschalten. Der Hacker musste aus Frankreich fliehen, weil gegen ihn ein Haftbefehl vorlag. Und der Ordensbruder macht in seinen vierwöchigen Ferien Wander- und Velotouren.

Phase 4: Akzeptanz

Die Menschen, dir mir gegenüber sitzen, erhalten einen eigenen Charakter: Der Ordensbruder isst am See noch ein Glace, bevor er ins Kloster zurückkehrt. Ich tausche Adressen aus und werde zum Sabbatmahl eingeladen.

Das Resultat des Tages ist nicht, dass ich keine Vorurteile, oder Stereotypen gegenüber Hacker, Bauern oder andere Menschen habe. Stereotypen helfen mir die Welt zu ordnen, meine Mitmenschen einzuschätzen und geben mir Richtlinien, wie ich mich gegenüber anderen verhalten könnte. Ich konnte die Teilnehmer an ihrem Aussehen und Gesten erkennen und einordnen, wie sie mich auch. Der Hacker enttarnte mich bald als Ethnologin. Wahrscheinlich lag es an meiner Frage wie man in die Hackergemeinschaft initiiert wird. Meinen Leitfaden hatte ich auf jeden Fall nicht benutzt.

Stereotypen sollte man nicht abschaffen, sondern sie flexibel und offen für Veränderungen machen.

Living Library

Die Living Library ist ein Projekt, das seit 2010 einmal jährlich durchgeführt wird. Während eines halben Tages stehen den Besucherinnen und Besuchern verschiedene Menschen für ein Gespräch von 30 Minuten zur Verfügung. In der diesjährigen Ausgabe waren diese Bauern, orthodoxe Juden, HIV-Positive, ehemalige Sans-Papiers, Ordensbrüder, Personen mit Leseschwächen und Hacker.

Ursprünglich wurde die Idee 2000 in Kopenhagen entwickelt. Heute finden in diversen Ländern Living Library Tage statt. Ziel sei durch die Förderung von Dialog, das Abbauen von Stereotypen, Rassismus und Vorurteilen.

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