Fritz Senn mit seiner Sammlung «Joyceana» Theo Zierock

Keine falsche Ehrfurcht

Der James Joyce-Forscher Fritz Senn hat sich sein Leben lang mit den Werken des irischen Autors beschäftigt. In der ZS erzählt er, wieso er mit 85 Jahren noch immer nicht genug hat.

26. April 2013

Fritz Senn, wie nahm Ihre Faszination für James Joyce und sein Werk ihren Anfang?

Als Anglistikstudent kam ich während eines einjährigen Aufenthaltes im konservativen England der 50er- Jahre zum ersten Mal mit «Ulysses» in Kontakt. Damals galt es als «dirty book». Was genau mich daran so fasziniert hat, kann ich nicht sagen. Aber es zog mich in seinen Bann.

Dann schlug das Leben ein. Sie haben geheiratet und mussten ihr Studium abbrechen, um ihre Familie zu ernähren. Neben ihrer Arbeit als Korrektor bei einem Verlag haben Sie sich weiterhin mit Joyces Werken beschäftigt.

Und das mit einem Arbeitspensum von 48 Stunden pro Woche. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, hatten die Bibliotheken bereits geschlossen. In England und Amerika fand ich Gleichgesinnte, mit denen es zu einem regen Briefwechsel kam. Von einem wurde ich aufgefordert, etwas zum schweizerischen in «Finnegans Wake» zu schreiben.

Später haben Sie ein eigenes Bulletin herausgegeben.

Das hiess «A Wake Newslitter». Dadurch konnte ich selbst viel publizieren. Ich wurde auch Teil des Journals «James Joyce Quarterly». Damit war ich als Aussenstehender – ich war ja kein Akademiker – auch mittendrin. Dann hatten andere Joyce-Begeisterte und ich die Idee, ein Symposium zu machen. Ohne jegliche Erfahrung lancierten wir 1967 das «First National James Joyce Symposium». Für uns war es ein Erfolg, für die Iren ein Anlass zu witzigen Kommentaren. Joyce war damals noch nicht so angesehen.

Joyce hat bis zu seinem Tod 1941 neben Triest und Paris auch immer wieder in Zürich gelebt. Was ist besonders Schweizerisch an «Ulysses» und «Finnegans Wake»?

James Joyce hatte ein gutes Gefühl für Sprachen und hat auch Dialekt verstanden. In einem Brief an einen Freund, der in der Maggi-Fabrik gearbeitet hat, schreibt Joyce von «Allerlei-Gemuesli-Suppe». Auch wenn es dieses Wort nicht gibt, zeigt es doch, dass er einiges verstanden hat. Auch das Schweizer Stimmrecht, das Sechseläuten, die Limmat und Schweizer Lieder kommen in «Finnegans Wake» vor.

Wie oft haben Sie «Ulysses» gelesen?

Diese Frage lässt sich so nicht beantworten. Aus dem einfachen Grund, dass man ab einem gewissen Punkt das Werk nicht mehr von der ersten bis zur letzten Seite liest. In einem Interview habe ich einmal gesagt, dass ich in Joyces Werken lese, wie andere zur Zeitung greifen. Im Bericht stand dann irgendetwas wie «Fritz Senn liest James Joyce jeden Morgen wie eine Zeitung». Das habe ich natürlich nicht gemeint. Das hörte sich nach einer Morgenandacht an.

Sie lesen «Finnegans Wake» und «Ulysses» auch in den Lesegruppen, die die James-Joyce-Stiftung anbietet. Wie lange geht so ein Zyklus, bis man das ganze Buch zusammen gelesen hat?

Wir lesen in diesen wöchentlichen Reading Groups immer recht genau. Daher dauert ein Ulysses-Lesedurchgang an die drei Jahre.

Was für Leute kommen zum Joyce-Lesen zusammen?

Es treffen ganz verschiedene Leute aufeinander. Oft ein paar Englischsprechende, die sehen, dass etwas läuft. Gut vertreten sind auch ältere Frauen mit einer guten Bildung, die jetzt wieder Zeit haben, sich mit Joyce zu beschäftigen.

Was ist mit Studierenden?

Die wenigsten haben Zeit, einmal wöchentlich für eineinhalb Stunden in die Stiftung zu kommen, um zu lesen.

Viele empfinden Joyces Werke bis heute als unzugänglich. Hilft das gemeinsame Lesen, einen besseren Zugang zu finden?

Die Schwierigkeiten und Hindernisse sind offenkundig. Weniger bekannt ist, dass viele lustige Stellen vorkommen, die einen Zugang ohne falsche Ehrfurcht erleichtern. Die Lesegruppen haben natürlich auch eine gesellschaftliche Seite. Deshalb finde ich es auch bemerkenswert, dass Joyce allgemein als so abgehoben gilt, dabei bringt er Leute zu gemeinsamem Lesen, wie das im Mittelalter noch üblich war. Aber Joyce war schon auch arrogant. Er verlangte ja nicht viel mehr, als ihm sein Leben zu widmen. (lacht)

Das ist ja gewissermassen das, was Sie gemacht haben?

Ich würde das Wort «widmen» mit seinem feierlichen Klang nie verwenden. Ich habe das ja stets aus Freude gemacht. Auch hier in der Stiftung stapeln wir eher tief. Es ist nicht so, dass wir James Joyce verehrten.

Was bedeutet Ihnen die James-Joyce-Stiftung?

Die Stiftung ist eine kleine Oase, die ein Stück Lebensqualität schenkt. Wir haben europaweit wohl eine der umfangreichsten Sammlungen zu Joyce. Die Lesegruppen verleihen ausserdem gerade auch älteren Leuten gesellschaftlichen Halt. Nur leider fehlt das Geld. Die Dienstleistungen, wie bibliographische Auskünfte, bringen kaum was ein. Wenn das ein Millionär liest, darf er sich gern bei uns melden.

Kann man aus James Joyces Werken etwas lernen?

(Überlegt lange) Bestimmt. Was mich neben Joyces Gespür für Sprache immer besonders angesprochen hat, ist seine grosse Empathie für das menschliche Scheitern. Das Meiste, was wir unternehmen, sind keine Erfolgsgeschichten. Selten verläuft etwas nach Plan und man fragt sich immer: Ist das nun alles? Joyces Figuren geht es nicht anders. Deshalb gibt es bei ihm auch keine grossen tragischen Opfer und schon gar keine Happy Ends.

Was machen Sie am 16. Juni, dem nächsten «Bloomsday»?

Der von Joyce im «Ulysses» beschriebene Tag fällt diesmal auf einen Sonntag, sodass wir unsere Feier auf den Samstag vorverlegen. Wie gewöhnlich unternehmen wir eine Tour zu den Orten, die mit Joyce verbunden sind – also die Universitätstrasse und vor allem Fluntern, allenfalls noch der Platzspitz und das Seefeld. Dann werden die «Freunde der Zürcher James-Joyce-Stiftung» in der Stiftung zusammen kommen, mit Lesungen, etwas Musik und wohl auch einem Guinness.

Zur Person

Fritz Senn wurde 1928 in Basel geboren. Er war Präsident der International James Joyce Foundation, sowie Mitherausgeber der Zeitschriften «A Wake Newslitter» und des «James Joyce Quarterly». Er erhielt drei Ehrendoktorate. Seit 1985 ist Fritz Senn Leiter der Zurich James Joyce Foundation.