Barbara Müller empfindet die Einführung der Bologna-Reform als Gewinn. Annik Hosmann

«Die Idee von Bologna ist eine andere»

Kaum jemand kennt den Reform-Prozess der europäischen Unis so genau wie Barbara Müller. Im Interview mit der ZS erklärt und verteidigt sie ihn.

7. März 2013

Barbara Müller, warum hat die Schweiz die Bologna-Reform 1999 so leicht durchgewunken? Sonst ist man bei EU-Reformen doch eher kritisch.

Sie wurde nicht aus heiterem Himmel eingeführt. Den Nährboden für eine Reform im Hochschulbereich gab es auf verschiedenen Ebenen. Die Universitäten hatten eine gewisse Autonomie von der Politik erlangt und auf gesetzlicher Ebene war in dieser Zeit vieles im Umbruch. Wie beispielsweise das neue Hochschulförderungsgesetz.

Wie würde denn die Schweizer Universitätslandschaft heute aussehen ohne die Bologna-Reform?

Sie wäre wahrscheinlich heterogener als heute. Es gäbe beispielsweise keine ECTS-Punkte. Durch die Einführung der Credits wurde eine Währung geschaffen, die zwar nicht über alle Zweifel erhaben ist, aber eine gewisse Vergleichbarkeit ermöglicht. Ohne die Einführung von Bologna wäre die Entwicklung sicherlich diverser gewesen.

Vielen Studierenden wäre das wohl lieber. Sie sind mit der Bologna-Reform überhaupt nicht glücklich.

Die Kritik ist erst in den letzten Jahren aufgekommen. An der Universität ist die Durchführung einer Reform nichts grundsätzlich Neues. Als den Studierenden das Ausmass der Änderungen bewusst wurde, entstand die Angst, dass es sich um eine Sparmassnahme handle und der Nutzengedanke im Vordergrund stehe. Sie hatten Befürchtungen, dass eine Verschulung der Universität stattfindet und dass die sozialen Aspekte verloren gehen würden.

Das ist zumindest zum Teil doch auch eingetroffen?

Nicht alle Veränderungen sind der Bologna-Reform zuzuschreiben. Es war beispielsweise weder eine Studienzeitbeschränkung noch eine Studiengebührenerhöhung als Idee formuliert worden. Die Idee von Bologna ist eine andere als die eigentliche Umsetzung. Die Bologna-Reform ist unverbindlich und daher die Umsetzung relativ frei. Durch die Reformen, die immer wieder durchgeführt werden, sind die Universitäten daran, Entwicklungen in die falsche Richtung zu korrigieren.

War das nicht schon absehbar, als man die Bologna-Erklärung unterzeichnet hat?

Bei der Unterzeichnung war das keinem der Anwesenden bewusst. Die Bologna-Reform erhielt, auf nationaler wie auf internationaler Ebene, eine Eigendynamik. Sie wirkte wie ein Katalysator für den Reformbedarf in vielen Ländern. Durch die neu gebildeten Allianzen und Kooperationen beflügelten sich die Universitäten gegenseitig. Einher ging damit natürlich, dass sie sich gegenseitig unter Zugzwang setzten. Durch verschiedene Anpassungsmechanismen, die sich auch theoretisch erklären lassen, haben sich diese Prozesse hochgeschaukelt.

Werden wir konkret: Studierende kritisieren beispielsweise die Credits, mit denen das Studium zur sinnlosen Punktejagd werde.

Früher im Liz-System gab es statt einer Punkte- halt eben die Unterschriftenjagd. Gewisse Seminare haben die Studierenden nur belegt, weil ihnen bekannt war, dass eine Unterschrift leichter zu kriegen war als in anderen Seminaren. Ich denke nicht, dass der Opportunismus heute grösser ist als früher. Heute ist wahrscheinlich die Zeit, in der die Studierenden die Leistung erbringen müssen, knapper.

Ein anderer, häufig vorgetragener Kritikpunkt: Die angestrebte Mobilität funktioniert in vielen Fällen nicht.

Das liegt meist an der unterschiedlichen Anrechnung der Punkte. Das ist eine sehr komplexe Angelegenheit, da die Anrechnungsfrage immer auch eine Ermessensfrage der Fakultäten und Institute ist. Viele Hürden sind auch administrativer Art, etwa Notenabgabefristen oder Prüfungstermine.

Das nehmen wir anders wahr. Es sind relativ wenig Studierende, welche die Möglichkeiten von Bologna, wie ein Auslandssemester oder einen Universitätswechsel nach dem Bachelor-Abschluss, auch wirklich nutzen.

Das liegt wohl auch daran, dass die Studierenden oft gar nicht mobil sein wollen. Grundsätzlich wollen sie nicht zu viel Zeit verlieren und möglichst schnell einen Abschluss erlangen. Ein weiterer Grund ist sicherlich der finanzielle Aspekt. Viele Studierende können sich ein Auslandssemester nicht leisten. Dazu kommt, dass die Planung eines Auslandssemesters mit einem gewissen Aufwand für die Studierenden verbunden ist. Aber warum man innerhalb der Schweiz nicht mobiler ist, dafür habe ich auch keine Erklärung.

Fast jährlich werden an der Uni Zürich Dinge angepasst oder rückgängig gemacht. Warum steckt die Bologna-Reform nach über zehn Jahren noch immer in den Kinderschuhen?

Die Bologna-Reform ist ein Prozess, der sich weiter entwickelt. Aber es ist schwieriger geworden, zu reformieren, wenn ein Punktesystem im Hintergrund steht. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass diese Dynamik bestehen bleibt und dieser Prozess, der mit der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung begann, nie abgeschlossen wird.