Verwechslung: Ein solcher Kanister enthielt die falsche Chemikalie. Pascal Ritter

Drei Tage Lebensgefahr am Irchel

Ein simpler Fehler führte zu Explosionsgefahr am Institut für anorganische Chemie. Die Sicherheit wurde mittlerweile verbessert. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

26. Februar 2013

Die Mischung aus Dichlormethan und Natrium ist hochexplosiv. Die beiden Chemikalien wirken zusammen wie Sprengstoff. Am Institut für anorganische Chemie köchelt diese Mixtur im Mai 2012 drei Tage lang vor sich hin. Die Gebäude der Universität im Irchelpark sind zu dieser Zeit voller Menschen. In der Cafeteria klappert Geschirr, in der Bibliothek ist es mucksmäuschenstill. Dann wirds hektisch. In der ganzen Stadt erklingen die Sirenen von Feuerwehr, Ambulanz und Polizei.

Das Gebäude, in dem sich das Institut für anorganische Chemie befindet, wird evakuiert. Im Nachbargebäude holen Polizisten Studierende von den Fenstern weg — die Scheiben könnten bei einer Explosion bersten. Studierende werden angewiesen, das Gebäude nicht zu verlassen. Es sei zu gefährlich. Die meisten denken: «Bestimmt falscher Alarm.» Doch diesmal gilt es ernst. Sprengstoffexperten der Polizei treffen ein und beurteilen die Lage. Sie wagen es nicht, sich dem unberechenbaren Gemisch zu nähern. Schliesslich rollt ein Roboter langsam auf die gefährlichen Chemikalien zu. Millimeter um Millimeter tastet er sich heran, ergreift mit seinen Metallarmen das Gefäss und giesst das Dichlormethan ab.

Fatale Verwechslung

Die Gefahr ist gebannt. Entwarnung. Auf dem Campus kehrt wieder Ruhe ein. Am nächsten Tag berichten die Zeitungen über den Vorfall. So spektakulär die Geschichte ist, so schnell ist sie auch wieder vergessen. Die ZS rollt den Fall nochmals auf und zeigt, wie es soweit kam und wo der Fehler passierte.

Alles beginnt an einem ganz normalen Arbeitstag im Gebäude 34, Stockwerk H des Irchel-Campus. Am Institut für anorganische Chemie gehen Chemiker hinter einer gesicherten Tür ihrer Forschungsarbeit nach. Ein Doktorand bereitet das Lösungsmittel Pentan für ein späteres Experiment auf. In einer speziellen Apparatur erhitzt er die Flüssigkeit zusammen mit Natrium, um dem Pentan Reste von Wasser und Sauerstoff zu entziehen. Enthält ein Lösungsmittel nämlich Wasser oder Sauerstoff, könnten diese bei nachfolgenden Experimenten unerwünschte Reaktionen auslösen. Ziel des Routinevorgangs ist es, eine Chemikalie ungefährlich zu machen. Was der Doktorand nicht weiss: Im Kanister mit der Aufschrift «Pentan» befindet sich Dichlormethan, das mit Natrium stark reagiert. Statt also einen Stoff zu entschärfen, bastelt er – ohne es zu wissen – eine Bombe. Niemand bemerkt den Fehler. Drei Tage lang arbeiten Angehörige des Instituts in nächster Nähe der explosiven Mischung. Drei Tage lang schweben sie in Lebensgefahr.

Der fatale Fehler kommt erst ans Licht, als Mitarbeiter des Instituts ein Experiment mit dem aufbereiteten vermeintlichen Pentan machen wollen. Das Lösungsmittel reagiert nicht, wie es zu erwarten wäre. Die Forscher analysieren den Inhalt und realisieren, dass eine gefährliche Mixtur vor sich hin köchelt. Sie schlagen sofort Alarm.

Den Hahnen verwechselt

Wie kann das passieren? «Der Doktorand hat alles richtig gemacht», erklärt Ferdinand Wild, Sicherheitsverantwortlicher des Anorganisch-chemischen Instituts. «Das Problem war, dass der Inhalt des Kanisters, mit dem er hantierte, nicht der Etikette entsprach.»

Der falsch beschriftete Kanister stammt aus dem Materialzentrum, das sich im Untergeschoss des Instituts befindet. Dort bestellen Uniangehörige von der Ameisensäure bis zum Zahnstocherholz in der 350er-Packung alles, was sie zum Forschen und Experimentieren brauchen. Unter der Bestellnummer 7000222 bietet der «Laden», wie er liebevoll genannt wird, «Pentan purum offen» an. Diese Nummer schrieb der Doktorand auf das Bestellformular. Ein Logistiker nimmt darauf einen Kanister und geht zu den riesigen, nebeneinander aufgereihten Fässern, die im Materialladen stehen. Er stellt den Kanister unter ein Fass — und irrt sich. Statt Pentan füllt er Dichlormethan in den Kanister. «Ab diesem Zeitpunkt konnte niemand mehr den Fehler auf einfache Weise bemerken», erklärt Thomas Trüb, der als Leiter der Abteilung Material und Logistik für das Materialzentrum verantwortlich ist.

Neue Sicherheitsvorschriften

Aufgrund des Vorfalls wurde das Sicherheitskonzept angepasst. Die Logistiker füllen die Kanister nur noch zu zweit ab und müssen mit einer Unterschrift den Inhalt bestätigen. Auch kauft der Materialladen vermehrt bereits vom Hersteller abgefüllte Kanister ein. Die verwechselten Stoffe Pentan und Dichlormethan werden aber weiterhin von Hand abgefüllt. Grund dafür ist, dass sie häufig verwendet und deshalb in grossen Mengen bestellt werden. Auch am Institut für anorganische Chemie wurden die Sicherheitsstandards verschärft. Enthält ein Kanister offen abgefüllte Chemikalien, überprüfen die Forscher den Inhalt, bevor sie damit arbeiten.

Personelle Konsequenzen hatte der Vorfall laut Trüb nicht. Am Institut ist es aber ein offenes Geheimnis, dass der Mitarbeiter, dem vermutlich die Verwechslung unterlief, mittlerweile gekündigt habe. Trüb möchte dies nicht bestätigen. Es sei nicht restlos geklärt, wem der Fehler passiert ist. Ob der Vorfall auch ein juristisches Nachspiel hat, ist noch offen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Über die Stadtpolizei liess sie verlauten, dass im Mai erste Ergebnisse zu erwarten sind.

Für Roger Alberto, Leiter des Instituts für anorganische Chemie, war es nicht das erste Mal, dass es in einem Labor brenzlig wird. Trotzdem sei der Fall aussergewöhnlich. «Wenn ich etwas kaufe, erwarte ich, dass drin ist, was auf der Etikette steht», sagt er. Trotzdem vertraut er dem Materialladen weiterhin. Dass vor Kurzem wieder ein Kanister falsch abgefüllt wurde, wie er berichtet, ändert daran nichts. «Die Verwechslung wurde dank den neuen Sicherheitsvorschriften im Institut sofort bemerkt.»