Zuckersüss und unwiderstehlich: eine liegengebliebene Linzertorte. Patrice Siegrist

Der heimliche Hunger nach Häppchen

ZS-Redaktor Corsin Zander lebte fünf Tage auf dem Uni-Gelände ohne Geld auszugeben. Er musste festellen: So viele Apéros gibt es gar nicht.

19. November 2012

Ich fühl mich schwach. Unkonzentriert. Gereizt. Nur ein Gedanke: «Hunger.» Blick auf die Uhr: 16:32. Vor fast 22 Stunden habe ich meine letzte Mahlzeit zu mir genommen. Ein paar Apérohäppchen. «Dieser verdammte Hunger!» Genügend zu trinken, soll helfen. Ich steh auf und will mir in der Küche der ZS-Redaktion die nächste Teetasse füllen.

Und da steht sie plötzlich vor mir. Zuckersüss. Unwiderstehlich. Eine Linzertorte aus dem Coop, 3 Franken 60. Wahrscheinlich liegt sie schon länger da. Von irgendeinem Fest. In einer normalen Woche würde sie mich kaum interessieren. Aber jetzt, da ich wieder seit bald einem ganzen Tag nichts gegessen habe, könnte ich mir kaum etwas Besseres vorstellen. Ich nehm sie in die Hand und denk: «Dieses Scheiss-Experiment. Ich habe jetzt Hunger und möchte jetzt essen. Ausserdem habe ich dafür kein Geld ausgegeben, so halte ich mich noch immer an die Regeln.» Ich beginne, mich selbst zu belügen.

Das Experiment

Begonnen hat alles vor Jahren. Zwei Dinge habe ich mich schon lange gefragt. Erstens: An der Uni gibt es jede Menge Apéros. Kann ich mich eine Woche lang nur von Häppchen ernähren? Zweitens: Am Historischen Seminar erzählt man sich von dem alten Mann mit Migros-Papiertüten, der an der Uni übernachtet. Gibt es den wirklich? Es gibt nur einen Weg, um das herauszufinden: selbst ausprobieren. Die Regeln sind simpel. Fünf Tage auf dem Unigelände. Essen gibt es nur bei Apéros. Geld auszugeben oder mich beschenken zu lassen, ist tabu. Montagmorgen. Soeben habe ich noch zuhause gefrühstückt. Cornflakes mit Milch und Zucker. Wie jeden Morgen. Ich packe meine Sporttasche: Kleider für fünf Tage, Zahnbürste, Deo, Duschmittel, Badetuch, Leinenschlafsack und sogar einen Anzug samt Herrenschuhen, falls ich mich an einem Apéro entsprechend kleiden müsste. Was natürlich auf keinen Fall fehlen darf: Laptop und iPhone. Wenn ich erst einmal auf dem Unigelände eingesperrt bin, will ich den Kontakt zur Aussenwelt nicht ganz verlieren.

Als ich kurz nach zehn mit einigen panischen Erstsemestrigen, welche ihren Vorlesungssaal suchen, die Uni betrete, halte ich kurz inne: Frühestens am Freitag werde ich dieses Gelände wieder verlassen. Da gilt es, mich einzurichten. Duschen im Akademischen Sportverband Zürich (ASVZ) sollte kein Problem sein. Heikler wirds beim Schlafplatz. Auf dem blauen Pipilotti Rist-Sofa zu schlafen, hätte zwar Stil, ist mir aber zu gefährlich. Schliesslich habe ich niemanden gefragt, ob ich fünf Tage lang an der Uni wohnen darf. Ich wähle die «Oase», den Begegnungsraum der Geschichtsstudis. Da hats auch ein Sofa. Ein ausgesprochen hässliches Exemplar allerdings. Würde man es «zum Mitnehmen» auf die Strasse stellen, bliebe es stehen, bis es ganz zerfällt – oder von alleine wegläuft. Wer weiss, was für Tiere darin wohnen. «Aber ich habe ja meinen Leinenschlafsack dabei», tröste ich mich.

Als Nächstes brauche ich einen Arbeitsplatz. Ich habe mir zugestanden, tagsüber im Büro der ZS-Redaktion zu arbeiten, schliesslich ist dieses auch auf dem Unigelände, aber spätestens um 20 Uhr muss ich im KO2 sein. Dieser Nebentrakt des Hauptgebäudes wird zwischen 20 und 22 Uhr geschlossen.

Ich bleibe hart

So langsam, aber sicher krieg ich Hunger. Dabei bin ich erst drei Stunden an der Uni. Der Veranstaltungskalender verheisst nichts Gutes. Die früheste Gelegenheit, etwas zu essen, bietet sich im Anschluss an eine Antrittsvorlesung um 17:00. Da wird Georgios Belibasakis seinen grossen Moment haben: die erste Vorlesung als ordentlicher Professor. Seine Familie wird dabei sein und natürlich einige Uniprominenz. Prorektoren, Professorenkollegen und zahlreiche Zuhörer. Und auch ich werde die Vorlesung zum Thema «Periodontitis: Battling with bacteria and losing tooth support» besuchen. Ich hab mir vorgenommen, die Veranstaltungen, an deren Apéros ich schmarotze, auch zu besuchen.

Bis dahin muss ich noch die Zeit totschlagen. 13 Uhr. Mein Seminar beginnt um 14 Uhr. Ich spiele mit dem Feuer und gehe in die Mensa. Da treffe ich jeweils um diese Zeit meine Freunde zum Mittagessen. 5 Franken 40 kostet ein Menu. Im Preisvergleich mit den anderen Unis der Schweiz unschlagbar. 3500 Menus verkauft die Mensa an der Uni im Zentrum täglich. Aber eben: verkauft. Gratis gibts hier nichts. Das Essen klauen? Aber nein, das ist nicht der Sinn des Experiments.

Sehnsüchtig starre ich auf die Teller meiner Freunde. Schon jetzt. Wie soll ich das die ganze Woche aushalten? Einer erbarmt sich: «Darf ich dir denn Essen schenken?» Ich bleibe hart («Nein, das wäre gegen meine Regeln») und versuche, das Thema zu wechseln: Christoph Mörgelis Entlassung steht kurz bevor. Die Zeitungen sind voll davon. Mörgeli fühlt sich gemobbt, aber so richtig Mitleid hat hier niemand. In der ganzen Affäre erhält aber auch die Uni schlechte Noten. Ihre Kommunikationsabteilung erteilt den Medienschaffenden immer die gleiche Antwort: «Kein Kommentar» – wie so oft, wenn es heikel wird. Auch ich werde immer wortkarger. Mit leerem Magen lässt es sich nicht sonderlich lustig sein. Im Gegenteil, ich bin gereizt. Aber noch kann ich das unterdrücken.

Luxuriöse Betreuungsverhältnisse

Ich muss weg vom Geruch des Essens. Kurz vor zwei Uhr – knapp wie immer – betrete ich den Vorlesungssaal, der mindestens 50 Plätze bietet. Zwei davon sind belegt. Ein dritter Student sitzt etwas abseits in seinem Rollstuhl. Um zwei Uhr folgt dann noch der Professor.

Hans-Lukas Kieser ist einer der ausgewiesensten Experten im Bezug auf den Völkermord an den Armeniern. Das Forschungsseminar für Masterstudierende untersucht einen Zusammenhang zwischen den Balkankriegen 1912 und dem Völkermord. Ein interessantes Thema. Mit dieser Meinung bin ich allerdings fast alleine. Die beiden Studierenden, die neben mir sitzen, sind mein Tutor und ein armenischer Doktorand, der ebenfalls das zugehörige Tutorat betreut. Der Kommilitone im Rollstuhl dachte, es sei eine Vorlesung, und verabschiedet sich wieder.

Da kommt mir Mörgeli wieder in den Sinn. Wurde ihm nicht vorgeworfen, es würde sich niemand für seine Vorlesungen interessieren? Vielleicht sollte ich seine Vorlesung einmal besuchen, denn ich bin begeistert von meinem Privatseminar. Das sind Betreuungsverhältnisse! Drei Personen kümmern sich um mich. Der Tutor verdient im Semester 1500, der Doktorand 25'000 und Kieser etwa 100'000 Franken. Ein Teil ihrer Arbeit kommt dabei nur mir alleine zugute. Da hab ich etwas für meine 700 Franken Studiengebühren, die ich für dieses Semester bezahle. Je länger das Privatseminar dauert, desto lauter knurrt mein Magen. Die Konzentration nimmt bei leerem Magen schnell ab, und Müdigkeit stellt sich ein. Ich bin froh, dass ich nicht einnicke. Das wäre wahrscheinlich aufgefallen.

Noch schwieriger wird es ein paar Stunden später bei der Antrittsvorlesung von Georgios Belibasakis. Da können mir nicht einmal die ekligen Bilder der durch Bakterien zerstörten Zähne den Appetit nehmen. Als Belibasakis die letzten Worte spricht: «There is an apéro downstairs», würde ich am liebsten aufspringen vor Freude. Aber ich will ja nicht auffallen. Im Strom der anderen Gäste lasse ich mich in den Lichthof treiben. Da stehen sie, die Tische mit den Nüssen und Häppchen. So eine Erdnuss ist ausgesprochen lecker, wenn man seit zehn Stunden nichts gegessen hat. Und als noch Käseküchlein und Lachsbrötchen serviert werden, wähne ich mich an einem Festschmaus.

Obwohl ich alleine dastehe, stört sich niemand an mir. Ich sehe auch ziemlich unauffällig aus, finde ich zumindest. Da sticht der ältere Herr mit ungepflegtem Bart schon eher heraus. Er sieht nicht aus wie ein guter Freund von Georgios Belibasakis. Die Dentalhygiene hat er in letzter Zeit auch eher vernachlässigt. Er interessiert sich vor allem für den Wein. Jedes Mal, wenn eine der Kellnerinnen mit einem Tablett vorbeigeht, streckt er kurz seinen Arm aus und fischt geschickt nach dem nächsten Häppchen. Im Gegensatz zu mir hat er keine Hemmungen. Das beruhigt mich. Bevor der Sicherheitsdienst der Uni mich wegweist, müsste wohl dieser Profi-Schmarotzer daran glauben.

Mein erstes Mal

Aber der Sicherheitsdienst mit seinen elf Angestellten hat besseres zu tun, als Apérogäste zu überprüfen. In erster Linie ist er für die Schliessung der Gebäude und für Kontrollgänge rund um die Uni zuständig. Vielleicht wird er mich auf einem dieser Rundgänge auch entdecken. Aber als ich an diesem Abend an meinem Arbeitsplatz sitze und mir die Zeit mit Talk Täglich (schon wieder ist das Thema die bevorstehende Entlassung von Christoph Mörgeli) vertreibe, kommt niemand vorbei. Ich bin fast schon ein wenig enttäuscht darüber, wie einfach das alles geht.

Die Uni ist leer und nur noch in wenigen Büros brennt Licht. Da, plötzlich schrecke ich auf. Alles zieht sich in mir zusammen. Adrenalin schiesst durch meine Adern: «Achtung, Achtung! Die Eingänge werden in fünf Minuten geschlossen. Bitte verlassen Sie das Gebäude!», hallt eine sonore Stimme durch die Gänge. So leicht lass ich mich nicht abschrecken. Da ertönt die durchdringende Stimme noch einmal: «Die Eingänge sind nun geschlossen. Bitte begeben Sie sich unverzüglich zum Haupteingang!»

Und dann? Nichts. Keine Sicherheitsleute mit zähnefletschenden Hunde. Einfach nichts. So ganz wohl fühle ich mich dabei trotzdem nicht. Hier strömen täglich tausende Menschen durch die Gänge, und plötzlich bin ich ganz alleine. Ich nehm mein Necessaire und geh aufs WC. Die Tür fällt zu. Ich könnte zahlreiche verrückte Dinge anstellen. Im WC hat es seit dem Skandal, als der Chef des Sicherheitsdienstes auf einem Klo eine Kamera installiert hatte, bestimmt keine Videoüberwachung mehr. Und in den Gängen entdecke ich auch nichts dergleichen.

Aber ich will mein Glück auch nicht herausfordern und kuschle mich brav in meinen Schlafsack auf dem ekligen Sofa. Um zu schlafen, bin ich zu aufgeregt. Zuletzt habe ich mich wohl vor über 15 Jahren so gefühlt, als ich meine erste Nacht alleine zuhause verbrachte und jedes Mal zusammenzuckte, wenn es irgendwo knackste. Ich versuche, mich mit einer Folge «State of Play», einer englischen Fernsehserie, müde zu machen. Ein vermeintlicher Selbstmord stellt sich als Mord heraus. Doch wer wollte die junge Sonia Baker in einer U-Bahnstation in London sterben sehen? Der Reporter Cal McCaffrey versucht, es aufzudecken. «So unterschiedlich können journalistische Recherchen sein», denke ich und versuche zu schlafen.

Nachdem ich die ganze Nacht immer wieder aufgewacht bin, ist jetzt endgültig nicht mehr an Schlaf zu denken: Es ist 05:38, und ich höre Stimmen. Die Uni öffnet offiziell erst um 7 Uhr. Ist es der alte Mann mit dem Migros-Sack? Der Sicherheitsdienst oder nur das Putzpersonal? Ich tarne mich für alle Fälle als Student, der die ganze Nacht durchgearbeitet hat: starte den Laptop auf und verfolge McCaffrey, wie er entdeckt, dass der ambitionierte Politiker Stephen Collins eine Affäre mit der verstorbenen Sonia hatte. Mich entdeckt dabei niemand. Eigentlich kann mir ja nichts passieren, aber es wäre mir doch peinlich, wenn mich jemand vom Putzpersonal da finden würde. Es kommt niemand rein. Der Wecker klingelt. Die erste Nacht ist überstanden.

Nichts zu lachen

07:24 Uhr. So früh war ich noch nie an der Uni und schon gar nicht in den Turnhallen des ASVZ. In den Gängen mischt sich der Mentholgeruch von Perskindol mit dem von kaltem Schweiss. Nach dieser Nacht auf dem Oasen-Sofa will ich jetzt nur noch eins: Duschen. In der Garderobe zieht sich ein älterer Herr um. Er war offensichtlich schon einige Zeit auf dem Fahrrad. Ich bin aber nicht der einzige, der hier erst gerade aus dem Bett gekrochen ist. Als ich die Dusche betrete, steht da schon ein junger Student und putzt sich unter der Brause die Zähne.

Frisch geduscht, aber noch nicht wirklich munter gehe ich zum Haupteingang der Uni. Da werde ich zugemüllt mit Flyern und Werbeprospekten, die ich alle dankend ablehne. Glücklicherweise wird auch der Tages-Anzeiger gratis verteilt. Der Mohammed-Film und Asylunterkünfte prägen die Schlagzeilen. Im Kulturteil ein Bericht über den irischen Stand-up-Komiker Dylan Moran, der am Mittwoch im Volkshaus auftritt. Dafür hätte ich sogar noch Karten gehabt, aber die habe ich verschenkt, da ich wusste, dass ich dann an der Uni auf der Suche nach Essen sein werde. Damals wusste ich allerdings noch nicht, wie schwierig das werden wird. Und statt mit Dylan zu lachen, werde ich dann am Mittwoch mit der Linzertorte in der Hand in der Redaktionsküche stehen und darüber nachdenken, mich selbst zu betrügen. Aber noch bin ich guten Mutes. Die erste Nacht ist überstanden, und so wirklich Hunger habe ich nicht. Noch nicht. Den Morgen überstehe ich einigermassen. Doch am Nachmittag brauche ich eine neue Strategie, um den Hunger zu vergessen: Schlafen. Der Relax-Raum des ASVZ im Uniturm scheint dafür ideal. Maximal 50 Minuten darf man sich hier hinlegen. Zur Auswahl stehen eine Klangliege, bei der die Bässe der Musik im Stuhl vibrieren, eine Audioliege, auf der man sich Kopfhörer mit Musik anziehen kann, und die Chi-Schüttler. Das sind Wasserbetten, auf denen die Beine während des Schlafens in gewünschter Stärke durchgeschüttelt werden. 50 bis 60 Studierende nutzen dieses Angebot während des Semesters täglich. Ich lege mich auf die Klangliege, finde aber in den 50 Minuten kaum Schlaf. Als ich dann doch einnicke, weckt mich die Betreuerin des Relax-Raums auch schon wieder sanft.

Mit «Pierre» zum Apéro

Beim heutigen Apéro habe ich nicht mehr so leichtes Spiel wie bei der Antrittsvorlesung. Der Fachverein Oekonomie (fvoec) organisiert einen Welcome Day für Austauschstudierende. Der fvoec zählt zu den reichsten und aktivsten Fachvereinen an der Uni. Da wird es bestimmt etwas zu essen geben. Bloss bin ich kein Wirtschaftsstudent und schon gar nicht im Erasmus-Programm. Mein Plan: Hilfe holen. Einen Freund, der mich begleitet und sich als Austauschstudent ausgibt. Mein Opfer ist schnell gefunden. Michael treffe ich fast jede Woche auf ein Bier. Da dies in dieser Woche nicht möglich ist, überzeuge ich ihn, mich an den Apéro zu begleiten. Michael ist jetzt Pierre und kommt aus Bordeaux. Das geht lange gut. Bis Monika, die Präsidentin des fvoec, um Ruhe bittet: «Es ist jetzt Zeit, dass alle ihre Buddies treffen, die euch während des Semesters begleiten.» Die Buddies stellen sich in einer Reihe auf. Pierre und ich ziehen es vor, abzuschleichen.

Lug und Betrug

Mein Ziel ist erreicht: der Magen gefüllt. Und so schlafe ich zufrieden ein, nachdem ich mir noch angeschaut habe, wie mein fiktiver Kollege Cal McCaffrey herausfindet, dass Sonia Baker den Politiker Stephen Collins erpresst haben soll. Ein paar Stunden später wecken mich Stimmen auf dem Gang, und Cal muss schon wieder ran. Er gerät in Schwierigkeiten, weil er mit der Ex-Frau seines Freundes und Politikers Stephen eine Affäre beginnt. Die Geschichte wird immer verzwickter. Ähnlich entwickelt sich auch mein Experiment. Der dritte Tag ist bisher mit Abstand der schlimmste. Es ist wohl einfacher, einfach ganz zu fasten, statt immer wieder ein paar Häppchen zu sich zu nehmen.

Blick ich auf die Uhr: 16:32. Vor fast 22 Stunden habe ich beim Apéro des fvoec meine letzte Mahlzeit zu mir genommen. Ich halte sie noch immer in der Hand. Zuckersüss. Unwiderstehlich. Eine Linzertorte aus d1em Coop, 3 Franken 60. «Dieses Scheiss-Experiment. Ich hab dafür kein Geld ausgegeben, so halte ich mich noch immer an die Regeln.» Ich beginne, mich selbst zu belügen.

Aber statt der Torte nehme ich einen Schluck Tee und warte auf den nächsten Apéro. Dieser beginnt erst um 20:50. An der dazugehörigen Alumni-Veranstaltung des Kunsthistorischen Instituts falle ich auf, als die Namenstafeln die Runde machen . Ich bleibe trotzdem sitzen und höre dem Vortrag zu, der unter anderem von einem Steve McQueen-Film handelt: «Hunger» – mir bleibt aber auch gar nichts erspart. Der Apéro danach ist bei weitem nicht so reichhaltig wie in den Tagen zuvor, und als ich auf dem Sofa in der Oase liege und Cal zuschaue, wie er sich in eigenen Lügen verstrickt, habe ich Hunger. Noch habe ich mich nicht belogen, aber einen weiteren solchen Tag halte ich auf keinen Fall mehr aus.

Paradiesisches Festmahl

Der Donnerstag enpuppt sich als mein Glückstag. Dafür sorgen zwei Institutionen, die mir sonst eher unsympathisch sind: Die Firma EFG Financial Products, welche strukturierte Finanzprodukte anbietet, und die katholische Hochschulgemeinde aki. Beim «Brown Bag Business Lunch» der EFG gibt es ein Kebabbrot mit Pastetenfüllung und sogar noch einen Eistee dazu. Herrlich. Und das aki hält zum Eröffnungsfest des Semester einen Apéro und ein reichhaltiges Nachtessen parat. Dafür muss ich aber doch noch einiges leisten. Schliesslich gibt es erst nach der Messe ein Essen. Ich bin reformiert aufgewachsen und habe keine Ahnung, wie man sich an einer katholischen Messe verhält. Bereits beim Bekreuzigen versage ich. Aber ich murmle fleissig mit. Hie und da werde ich schon etwas kritisch beäugt, bis Michael – der sich vor zwei Tagen noch Pierre nannte – hinzustösst. Als das Brot gebrochen und der Wein getrunken ist, geht man zum Apéro über. Während sich bei den anderen Apéros nie jemand für mich interessiert hat, stellen sich hier die anderen Gemeindemitglieder artig bei mir vor, fragen interessiert und bemühen sich, mich willkommen zu heissen.

Zum ersten Mal habe ich ein echt schlechtes Gewissen. Als wir uns dann vor dem Abendessen etwas zurückziehen, stellt mich der Pfarrer zur Rede: «Normalerweise kommen nur ausländische Studierende neu hinzu. Dass Schweizer kommen, ist sehr selten.» Ich erkläre ihm, dass ich mich für das universitäre Leben interessiere, schon viel von der aki gelesen habe und mir das ansehen wollte. Wenigstens habe ich nicht gelogen. So richtig zufriedenstellend war diese Antwort nicht, doch beim anschliessenden Essen werden wir nicht angefeindet. Im Gegenteil. Es gibt herrliches Risotto und sogar Wein. Ich esse mich satt wie nie in den Tagen zuvor. Auch beim Reporter Cal McCaffrey gibt es später ein Happyend, wenngleich die Geschichte sich mehrfach wendet und sehr viel spannender verläuft. Aber wahrscheinlich geschieht an einer solchen Uni weniger Spektakuläres, als wir uns das zuweilen erhoffen.

Und so bleibt am Ende eine leise Enttäuschung: Ich habe den alten Mann mit den Migros-Papiertaschen nie gesehen.