Vorurteile zu Tessinern. Fabienne Ehrler

Ach, du bist Tessiner

Das heisst zerrissene Jeans und dolce far niente!

19. November 2012

Du fällst an der Uni schnell auf. Im Vorlesungssaal brauche ich mich nicht mal umzudrehen und weiss sofort, wo ich dich auf meiner geistigen Landkarte verorten muss. Keiner hier spricht diese Sprache, die ich unweigerlich mit Sommerferien auf dem Campingplatz in Tenero, Eros Ramazzotti oder einem Besuch in der Pizzeria in Verbindung bringe.

Klar kannst du jetzt in vorwurfsvollem Ton und wild gestikulierend entgegnen, dass es sich genauso gut um italienische Studierende handeln könnte. Doch selbst von unseren südlichen Nachbarn, die von dir sonst so sehnsüchtig beäugt werden, unterscheidest du dich­ essenziell.

Sind diese nämlich meist etwas schüchtern und zurückhaltend, trittst du immer in Gruppen auf, zusammen mit deinen lauten amici. Euer Verhalten ist derart auffällig, dass man meinen könnte, die Uni grenze direkt an die Piazza Grande. Wenn ich mich dann doch umdrehe, um zu sehen, wer denn alles wieder über die notte fantastica vom vergangenen Wochenende spricht, sind auch die letzten Zweifel aus der Welt geräumt. Immer wieder schaffen es nämlich die gleichen Stereotypen durch den Gotthard bis nach Zürich.

Das fängt nur schon bei den zerrissenen Jeans an. In der Sonnenstube der Schweiz stellen diese Hosen wohl eine Art Tracht dar. Überhaupt scheint der Rocker-Stil bei euch ja keineswegs aus der Mode geraten zu sein. Die Frisur setzt dem Ganzen dann im wahrsten Sinne des Wortes die Krone auf: Die oft etwas länger getragenen, im «out-of-bed-Look» frisierten Haare sind zwar nördlich der Alpen seit einem gefühlten Jahrzehnt nicht mehr im Trend, doch so verbreitest du auch bei uns das Lebensgefühl des dolce far niente.

Diese Mentalität ist bei dir und deinen ragazzi so stark verbreitet, dass ich mich manchmal frage, wie du dein Studium überhaupt bewältigst. Oder vergibt der ASTAZ etwa Kreditpunkte für die Teilnahme an seinen Partys?

Stimmts? Ein Tessiner* antwortet:

Wie schön wäre es doch eine Uni auf der Piazza Grande in Locarno, anstatt im grauen und nebligen Zürich zu haben… Ein echten Cappuccino mit Cornetto dazu und schon wäre das Studentenleben viel entspannter. Unsere bekannte Partylaune ist nicht zu leugnen, aber irgendetwas müssen wir ja tun um das neblige Zürich aufzurütteln und den Deutschschweizern unsere Südländische Fröhlichkeit anzustecken. Außerdem muss man beachten dass unsere Festa hier so beliebt ist dass auch viele Deutschschweizer bei der einen oder anderen Einladung nicht absagen können. Leider vergibt die ASTAZ (noch) keine Kreditpunkte, die Teilnahme an möglich vielen Tessinerpartys ist jedoch eine Testatbedingung für ein echtes Studentenleben. Wir würden auch gerne Eros Ramazzotti als Tschinggeli bei uns im Tessin aufnehmen, aber da ist wohl etwas in der geistigen Landkarte durcheinander gekommen, weil er ist und bleib Italiener und kommt zu uns höchstens im Sommer um Konzerte zu geben. Das müsstet ihr Deutschschweizertouristen ja übrigens am besten wissen, da ihr ab Ostern die Piazza Grande regelmäßig belagert. Natürlich ohne jemals ein Wort Italienisch zu sprechen beim bestellen der guten Tessiner Salametti in den verschiedenen Restaurants. Wir dagegen sprechen oft laut und sind auffällig weil wir eine Minderheit in Zürich sind, und die Einheimischen übertönen müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Oft fallen wir durch unsere offene Art auf und das «dolce far’ niente» möchte sicher jeder ab und zu genießen, ob dann dieses Gefühl unter einer perfekten Tussi Frisur versteckt bleibt oder freien Auslauf durch zerrissene Jeans findet ist natürlich Geschmack Sache. Das wichtigste ist, dass durch die ASTAZ auch die steifen Zürcher etwas vom dem beneidenswerten Südländischen Lebensstyl direkt mitbekommen – auch ohne den Gotthardtunnel passieren zu müssen!

*Luca Soldati, Vizepräsident des Tessiner Studierendenvereins «Associazione Studenti Ticinesi A Zurigo».