Wer verdient wie viel? Tomas Fryscak

Ärger mit «Dr. Arbeitslos»

Der Tages-Anzeiger schreibt über Doktoren ohne Jobaussichten. Ein Akademikerverband wehrt sich und behauptet das Gegenteil.

21. September 2012

Sandro Felder ist ausgesteuert. Das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum wird ihm zudem kein weiteres Praktikum vermitteln. Der junge Mann, mit Anfang 30 in seinen besten Jahren, überlegt sich nun, im Supermarkt Regale aufzufüllen, um sich über Wasser zu halten. Seinen Doktortitel in Geschichte versteckt er mittlerweile ganz unten in der Bewerbung. Schriftgrösse zehn. Seine Kollegen hätten ihm dazu geraten: nach 100 gescheiterten Bewerbungen.

Mit der Geschichte von Dr. Felder – der Name wurde geändert – illustrierte der Tages-Anzeiger Mitte August das Phänomen «Doktor Arbeitslos». Im gleichnamigen Artikel zeichnet er ein düsteres Bild der angeblich prekären Situation der Doktortierenden in der Schweiz. Vor allem Studierende wie Felder, der seine Dissertation aus Mangel an Stellenangeboten nach dem Master schrieb, würden ihre beruflichen Chancen eher verbauen als erweiteren.

Herr Dr. Regalfüller

Tatsächlich erhielten im letzten Jahr 3488 Personen in der Schweiz einen Doktortitel. Werden auch sie als Regalauffüller enden?

«Nein!», schreibt die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW), ein Dachverband verschiedenster wissenschaftlicher Fachgesellschaften. In einer Stellungnahme zu besagtem Artikel, die der Tages-Anzeiger in gekürzter Form als Leserbrief abdruckte, kritisierte sie den Artikel scharf. Er bediene nur «Clichés», statt sich kritisch mit der akademischen Ausbildung auseinanderzusetzen.

Aufhänger für den umstrittenen Artikel im Tages-Anzeiger ist die Anzahl Arbeitsloser mit Doktortitel. Es seien «rund doppelt so so viele wie zu Beginn des Krisenjahres 2009», schreibt der Tages-Anzeiger. Tatsächlich waren im August diesen Jahres 727 Doktoren mehr bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren gemeldet als 2009 im selben Monat. Damals waren 1652 ohne Stelle, heute sind es deren 2379.

Auch wenn sich die arbeitslosen Promovierten also «nur» um den Faktor Eineinhalb vermehrt haben, ist dies doch ein starker Zuwachs.

Für den Fachgesellschaftenverband SAGW sind diese Zahlen aber wenig relevant. «Aussagekräftig ist nicht die Zahl der bei der Arbeitsvermittlung registrierten Doktoren, sondern vielmehr deren berufliche Situation ein bis zwei Jahre nach ihrem Abschluss», heisst es in der Stellungnahme weiter.

Knapp 96 Prozent finden eine Stelle

Ein Längsschnittstudie des Bundesamtes für Statistik (BFS) hat ebendiese Situation analysiert und kam zum Schluss, dass 95.9 Prozent der Doktoranden, die 2008 promovierten, ein Jahr danach eine Stelle gefunden hatten. Damit liegt die Erwerbsquote sogar leicht über der von Master- beziehungsweise Lizenziatsabsolventen des gleichen Jahres. Fünf Jahre nach dem Abschluss sieht die Situation noch besser aus. Unabhängig von der Fachbereichsgruppe lag die Erwerbslosenquote der Promovierten von 2004 im Jahr 2009 unter zwei Prozent. Mit anderen Worten: Mit einem Doktortitel sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt hervorragend.

Die Zahlen des BFS geben der stetig wachsenden Zahl Studierender Recht, die sich für ein Doktorat entscheiden. Die vom Tages-Anzeiger postulierte Figur des «Dr. Arbeitslos» scheint vor dem Hintergrund dieser Zahlen und der Kritik der SAGW also ins Reich der Mythen zu gehören und die Geschichte von Dr. Felder ein Einzelfall zu sein.

Ganz so klar ist die Sache aber nicht. Die Längsschnittdaten des BFS sind zwar um einiges aussagekräftiger als die vom Tages-Anzeiger zitierten absoluten Arbeitslosenzahlen. Doch auch sie haben ihre Schwäche: Die neuesten Befragungsdaten sind bereits drei Jahre alt. Solange keine aktuelleren Längsschnittdaten vorliegen, kann die Frage, ob ein Doktortitel Karrierehemmer oder -katalysator ist, nicht abschliessend beantwortet werden. Ob Regel oder Ausnahme: Fälle wie die von Dr. Felder sind den Studienberatern bekannt. Sie raten deshalb davon ab, aus Mangel an Stellenangeboten zu doktorieren.

Entscheidend muss laut Martin Ghisletti, Leiter der Career Servies der ETH Zürich, das persönliche Interesse an der Forschungsarbeit sein. «Eine spätere Karriere in der Wirtschaft ist keine optimale Motivation für ein Doktorat», sagt Ghisletti.