Thomas Perspektive beim Tanzen im Dance Circus. Thomas Huber

Im Rollstuhl ans Zürich Openair

Unser ZS-Reporter tanzte im Rollstuhl zu Kraftwerk, Prodigy und The Killers. Schlimmer als das regnerische Wetter waren nur die altbackenen Sprüche von anderen Festivalbesuchern. Thomas liess das aber kalt.

10. September 2012

So viel mal vornweg: Mitleid brauche ich so sehr wie Warzen, nämlich gar nicht. Ich sitze zwar seit 15 Jahren im Rollstuhl, aber wenn es darum geht, an ein Open Air zu gehen, ist diese Tatsache kaum von Bedeutung. Und wenn ich mich nach Mitternacht auf die Tanzfläche des «Dance Circus» oder des «Rohstofflagers» verirre, sitze ich bestimmt nicht nur lethargisch da, sondern nütze den mir verbleibenden Bewegungsspielraum gänzlich aus. Mitwippen, Arme durch die Luft werfen, so gut es eben geht, im Flow der Musik, ganz normal halt.

Altbackene Sprüche

Für die stehenden Openair-Besucher grenzt das offenbar an ein Wunder: «Geile Siech!» – Na ja, es geht so; «So cool bisch du au no underwegs!» – Soll ich mich zu Hause verstecken? Und wenn ich mal mit einem Bier in der Hand im Gewühl stehe, kommt mit Sicherheit ein ganz Frecher, der meint «Don’t drink and drive». Genau. Natürlich meinen es die Leute nett, aber hey, ich hab die Sprüche schon zu oft gehört um noch gross Lust zu verspüren, darauf einzugehen. Insbesonders da die Leute, die mich üblicherweise ansprechen, immer dem gleichen Schema entsprechen: männlich, alkoholverquollen und mitteilungsbedürftig. Wären sie weiblich, attraktiv und paarungswillig, würde die Sache natürlich anders aussehen. So bleibt nur zu hoffen, dass der nächste wenigstens etwas Witz versprüht. Auf Originalität warte ich aber auch diese Nacht vergeblich. Das ist allerdings kein Drama, die treibenden Beats bereiten mir auch so Spass und vorbei ist es erst, als die Anlagen abgedreht werden und ich mich im Strom des immer noch aufgedrehten Partyvolkes in die Stadt treiben lasse.

VIP-Zelt ohne Stars

Einiges mehr Verständnis für die Bedürfnisse eines Rollstuhlfahreres zeigen die Veranstalter. Sie haben sich alle Mühe gegeben, ein Schlammchaos wie bei der ersten Ausgabe des Zürich Open Airs vor zwei Jahren zu vermeiden. Gefühlte 80 Prozent des Geländes sind mit Holzplanken, Kunststoff- und Eisenplatten bedeckt und so bleibe ich trotz dem vielen Regen nie im Schlamm stecken. Die Rollstuhlbühne bietet zwar eine gute Sicht auf die Konzerte, da aber die Überdachung fehlt, bin ich glücklich, im Besitz eines VIP-Passes zu sein, der Zugang zum trockenen Zelt für die wichtigen Leute bietet. Wirklich wichtige Personen sucht man in diesem Zelt allerdings vergeblich, die Künstler verstecken sich alle hinter den Bühnen. Dafür findet man umso mehr solche, die sich wie Stars verhalten: Cool und distanziert, nur keinen Kontakt mit anderen wagen, es könnten ja Normalos sein. Gratisgetränke oder -essen gibts auch nicht. Dafür Toiletten mit Schiebetüren, die auch noch nach Mitternacht glänzen.

Dank der VIP-Überdachung bleiben mir die ganz grossen Regentorturen erspart. Aber nach drei Tagen im Festivaltaumel ist dann trotzdem mal genug mit feuchten Kleidern, schmutzigen Fingern, Hopfengetränken und Musik. Bevor ich dem nächsten Betrunkenen die Plattform biete, sein «Geile Siech!» loszuwerden, gönne ich mir eine Taxifahrt zurück in die Zivilisation, wo mich der Nachhall der Bässe in den Schlaf begleitet und mich in meinem Entschluss bestärkt, den Sonntag den Jüngeren zu überlassen.