So nahe kommt der Zuschauer den Schauspielern selten. Heinz Holzmann

Theater in Atemnähe

Wann hat der Zuschauer schon einmal die Möglichkeit, mitten auf der Bühne, auf engstem Raum, mit den Akteuren, ein Schauspiel zu erleben? «IN MY ROOM: Die Geschichte von Julie» ist eine hyperrealistisch anmutende Inszenierung der Künstlervereinigung «mikeska➕blendwerk».

15. Mai 2012

Der Psychothriller wird als Zweiteiler an verschiedenen Abenden und unterschiedlicher Lokalität gezeigt. Die Fortsetzung folgt jeweils zur gleichen Zeit genau eine Woche später. Diese Kunstpause erhöht aus der Sicht des Zuschauers nicht nur die Spannung, sie ist auch essentiell für die räumliche und zeitliche Komponente der Inszenierung.

Am ersten Abend betritt der kleine Kreis von acht Zuschauern eine Mietwohnung in der Nähe des Bucheggplatzes. Es herrscht, so scheint es – positiv formuliert –, das kreative Chaos. In der Küche angekohlte Maiskörner in der Pfanne und durchnässte Teebeutel auf dem Geschirr im Schüttstein, im Schlafzimmer liegt Kleidung verstreut.

Plötzlich dreht sich der Schlüssel im Türschloss und die Sängerin Julie kommt in aufgewühlter Stimmung nach Hause, um sich erst einmal Wasser aufzukochen. Wenig später ist auch Robert, ihr Freund und Manager, heimgekehrt. Julie ist von Selbstzweifel zerfressen, eine prägende Erfahrung lastet schwer auf ihr und der Beziehung zu Robert. Auch wenn er sie, und wohl auch sich selbst, nur zu gern davon überzeugen würde, dass mit der Zeit alles wieder gut werden wird.

Doch dann steht unerwartet Charlotte, ein Fan Julies, vor der Tür und möchte sich von dort, wie auch kurz darauf aus der Wohnung, nicht mehr fortbewegen. Die bewundernde Nachahmung der Sängerin seitens der jüngeren Frau ist aber für diese weniger schmeichelnd als vielmehr verstörend, wie es auch die tiefsinnigen Fragen Charlottes sind. Bestehen Dinge, die wir einmal vergessen haben, später gleichermassen weiter oder gehen sie etwa einfach verloren? Bald wünscht sich Julie, das junge Ding würde sie wieder in Ruhe lassen.

Zur zweiten Vorstellung, in der Gessnerallee, begeben sich die Zuschauer, dank Kopfhörern ins ausgeklügelte Soundsystem eingebunden, in eine geometrisch exakte Nachbildung der bekannten Wohnung. Nur scheint dieser Bühnenkomplex steriler oder einfach künstlicher.

Auch die Handlung erscheint zuerst wie ein Abbild der Geschehnisse von letzter Woche, jedoch erscheinen die feinen Unterschiede mit zunehmender Dauer immer eklatanter.

Wieder geht es um die schwerwiegende Vergangenheit, die Erinnerung daran und wie die Charaktere damit im Jetzt nicht zurechtkommen können. In den Dialogen wird die Metaphorik nun noch stärker bemüht und die Bewegungen im Raum erscheinen immer öfter ins Irreale zu driften.

So vermag denn auch die Story den Zuschauer mehr und mehr in Bann zu ziehen, während die unmittelbare Nähe der Akteure natürlich von Beginn an fesselt. Das stark aufspielende Trio steht in der Konversation immer wieder in Atemnähe zu den Besuchern oder rauscht durch das staunende Spalier hindurch, welches meist vom Flur aus in die Zimmer äugt oder gemeinsam mit den Charakteren einem erneuten Schellen der Türklingel entgegenbangt. Denn spätestens dann ist an kein Vergessen mehr zu denken. Es fällt uns allzu selten leicht, die Geister der Vergangenheit einfach abzuschütteln.

Ob die erzählerische Essenz des Plots nun neu oder überraschend daherkommt, sei dahingestellt. Was jedoch unbestritten Begeisterung hervorruft und das Stück möglicherweise selbst für Abstinenzler des klassischen Theaters sehenswert macht, ist in diesem Fall die Umsetzung in ihren aussergewöhnlichen Facetten.

Wann: 15. (19.30 und 21.00 Uhr), 17., 18. und 19. Mai 2012 (18.00 und 19.30); Teil 2 jeweils eine Woche später. Reservation über das Theaterhaus Gessnerallee dringend empfohlen.

Wo: Theater Gessnerallee

Mit: Karin Enzler, Petra Schmidig, Christopher Novak

Regie: Bernhard Mikeska