Marc Hosemann und Irina Kastrinidis vor dem linken Drittel der Bühne. Schauspielhaus Zürich

Das «SS Amerika» im Schiffbau

Frank Castorf inszeniert im Schiffbau Kafkas «Amerika» mit einem stark aufspielenden Ensemble vor imposanter Kulisse.

2. Mai 2012

Kafka am Pfauen, das ging schon einmal gut. Auch die stolze Dauer des guten Stücks (über vier Stunden) schreckte mich nicht ab. Zudem partizipieren mit Gottfried Breitfuss, Robert Hunger-Bühler, Sean McDonagh und Lilith Stangenberg nicht nur die gesamte Garde meiner ausgewählten Lieblinge des Schauspielhaus-Ensembles. Mit Marc Hosemann ist auch ein Altbekannter von der Volksbühne Berlin mit von der Partie, der in Zürich zuletzt in «Die schwarze Spinne. Pilatus’ Traum» unter der Regie von Frank Castorf (Intendant der Volksbühne) zu sehen war. Und heuer haben sich die beiden also wieder in Zürich eingefunden, um Kafkas Romanfragment, das sein Freund Max Brod posthum unter dem Titel «Amerika» veröffentlichte, in Szene zu setzen.

Der Plot ist bekannt: Der junge Karl Rossmann schwängert ein Dienstmädchen und wird nach Amerika geschickt. Er kann eine Weile bei seinem Onkel leben, wird aber auch von diesem fallen gelassen und gerät an zwei zwielichtige Gesellen, bevor er sich endlich nach «Oklahama» ins Naturtheater lossagen kann. Was also anstellen mit diesem Stoff?

Ein Monstrum von einem Bühnenbild

Das Spektakel beginnt im Atrium, auf dieser gemütlichen Terasse inmitten von Zürichs In-Quartier, vor atemberaubender Kulisse (Bühne: Aleksandar Denic). Das Atrium ist zum Deck eines Schiffes umfunktioniert worden, mit riesigem Schornstein, Rettungsbooten, Sonnensegeln, Schiffshorn und einer Unmenge an Dampf, dessen Gestank nach destilliertem Wasser sich dank des schönen Wetters aber bald verflüchtigt. Die Balkan-Brass-Band bläst in ihr Blech, was das Zeug hält und gibt mit Pauken und Trompeten die Manege frei.

Da tobt der Heizer, wirft mit Kohle um sich, während der Oberkassier und die Kapitänin zu beschwichtigen versuchen. Da rennen die – plötzlich vervierfachten – Karls mit den Rettungsbooten auf dem Deck herum, schaukeln mit dem Obermaschinisten darauf und als wäre der Hektik noch nicht genug, eilen die sieben Musiker im Gleichschritt durch das Gewusel und stellen ihr Lungenvolumen unter Beweis. Und mitten in diesem Chaos huscht Karl hin und her und erklärt, dass er jetzt aber «auf jedes Wort achtgeben» muss.

Nach etwa einer Dreiviertelstunde wechselt die Szenerie. Der Publikumstross wird in die Halle geführt, wo wiederum mit einem Monstrum von einem Bühnenbild aufgewartet wird. Es erstreckt sich nicht quer, wie meist üblich, sondern längs durch die ganze Halle, mehrstöckig, mit Aufgängen, einem Aufzug, und in den Untergrund führt eine Treppe in die Metrostation. Wer die freie Platzwahl zu seinen Ungunsten genutzt hat und ganz links sitzt, bekommt vom Geschehen auf der anderen Seite gar nichts mit. Was allerdings nicht weiter schlimm ist, da alles per Video auf die Leinwände an den Wänden links und rechts übertragen wird.

Multimediales Spektakel

Und dann ist Pause. Zwei Stunden voller Abwechslung und Ereignisreichtum sind um. Zeit, die geballte Ladung Power zu verdauen. Auch nach der Pause wird wahrlich grosses Kino geboten. Wer den wackligen Film-Collagen auf den Leinwänden nicht mehr folgen will (aus langsam aufkeimendem Überdruss oder Nackenstarre), kann dem bunten Treiben der Schauspieler, Ton- und Videotechniker, Musiker und Leuchtreklamen auf der Bühne folgen. Da fahren ausrangierte VW-Busse, dreirädrige Hot-Dog-Autos und Schubkarren herum, da wird gerackert, gesoffen und denunziert, diskutiert, gestritten und Monologe gehalten. Und Musik gemacht. Wenn man das enervierend frohlockende Getute so nennen möchte.

Und so langsam geht einem das multimediale Spektakel auf den Senkel. Die schnellen, wilden Videobilder, die prompten Szenenwechsel, die eigenwillige Klangfarbe von Stangenbergs Stimme – all das lässt die Handlung vollkommen in Vergessenheit geraten. Fortwährend wird gerannt und durcheinandergeschrien. Und im Fortissimo geblechbläsert. Es ist denn auch die Band, die den Schlusspunkt setzt nach einer anstrengenden zweiten Hälfte. Und die Schauspieler, die diese vier Stunden ohne auch nur ein klein wenig nachzulassen durchgespielt haben (nach dem kräfteraubenden Beginn an der freien Luft, notabene), noch im Applaus von der Bühne drängt.

So bleibt die Erinnerung an die fabelhaften Schauspieler und das grossartige Bühnenbild. Und der Eindruck, dass alles ein wenig zu viel war. Und zu lang sowieso.

Wo: Im Schiffbau (Schauspielhaus Zrich)

Wann: 3., 4., 7., 9., 10., 13., 16., 17. Mai 2012

Dauer: 4¼ Stunden (Pause nach 2 Stunden)

Preise: Fr. 60.-/40.-