Daniel Müller Nielaba plädiert für das Vertrauen in die Lehrkräfte und die Philologien. Lars Zopfi

«Die individuelle Lektüre ist unersetzbar»

Daniel Müller Nielaba ist selten in den Medien. Dabei hätte er viel zu sagen. Ein Gespräch über Literatur, Pornographie und den heutigen Leser.

27. April 2012

Daniel Müller Nielaba, was nützt die Literaturwissenschaft eigentlich der Allgemeinheit?

Das ergibt sich erst auf den zweiten Blick. Die Literaturwissenschaft findet kein Mittel gegen schwere Krankheiten und ist am unmittelbaren Nutzengedanken gemessen eine überflüssige Wissenschaft. Doch wenn das Wissen um unsere Herkunft nutzlos ist, heisst das konsequenterweise, dass wir keine Vergangenheit mehr haben. Das historische Gedächtnis ist unverzichtbar, sonst würden wir zur geschichts- und kulturlosen Gesellschaft verkommen. So gesehen ist die Literatur ein wichtiges Zeugnis der menschlichen Genealogie.

Eigentlich wäre es doch Ihre Aufgabe als Literaturwissenschafter, der Gesellschaft dieses Wissen weiterzugeben. Allerdings liest man Ihren Namen kaum einmal in den Medien.

Ihre Beobachtung ist richtig. Das hat mehrere Gründe. Mein Forschungsschwerpunkt liegt im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Diese Zeit ist kaum medientauglich. Ich finde nicht, dass die Geisteswissenschaften um jeden Preis in den Medien sein sollten. Ein Philologe muss nicht in jedes Mikrofon plaudern. Die Literaturwissenschaft ist nicht dazu da, schwierige Literatur auf einen niedrigen Komplexitätsgrad herunterzubrechen.

Damit verpassen Sie die Chance, denjenigen schwierige Literatur zu vermitteln, die ohne Ihre Erklärungen den Zugang dazu nicht finden.

Es ist nicht generell falsch, schwierige Texte zusammenzufassen. Aber zwiespältig. Ein Kulturgut kann auf eine simple Art vermittelt werden. Der Inhalt eines Buches ist aber nur ein Aspekt von dessen Wert. Die individuelle Lektüre ist unersetzbar, um es ganz zu verstehen .

So müssen Sie sich aber den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie nur still im Elfenbeinturm vor sich hin arbeiten, ohne dass die Gesellschaft einen Nutzen davon hat.

Das ist Unsinn. Ich besuche regelmässig Schulen und halte Vorträge zur Literatur. Dies generiert einen gesellschaftlichen Mehrwert. Ich finde es interessant, dass man einem Literaturwissenschaftler den Elfenbeinturm-Vorwurf macht, einem Linguisten hingegen nicht.

Vielleicht liegt das auch am fehlenden Interesse heutiger Leserinnen und Leser an komplexer Literatur.

Viele haben sich an das 20-Minuten-Format gewöhnt. Die Lesepraxis ist im Wandel. Für viele ist es nicht mehr möglich, einen längeren Text zu lesen. Daraus ergibt sich eine Form von Literatur, die schnell produziert und konsumiert wird. Diese braucht keine gediegene Feuilleton-Rezension mehr. Die Verschlechterung der Lesekompetenz ist aber eine längerfristige Entwicklung. Im Vergleich dazu, wie man im 18. Jahrhundert gelesen hat, sind wir heute alles Stümper.

Dafür boomen Bücher von Charlotte Link oder Joanne K. Rowling. Ist diese Trivialliteratur der Untergang für die hochstehende Literatur?

Ich streite niemandem das Recht auf Unterhaltung ab. Es ist gut, wenn überhaupt gelesen wird. Lektüre impliziert das Denken. Das Urteil «entweder hochstehende Literatur oder gar nichts» hat etwas Doktrinäres. Man soll niemandem vorschreiben, was er lesen darf. Jeder, der liest, entwickelt ein Interesse für anspruchsvolle Lektüre.

Wo ziehen Sie die Grenze zwischen der trivialen und der hochstehenden Literatur?

Darstellungen, die lediglich das Gewöhnliche beschreiben, sind trivial. Das ist ähnlich wie bei der Pornographie und der Erotik. Pornographie gibt den Geschlechtsakt möglichst authentisch wieder. Dort, wo die Darstellung des Geschlechtlichen über das Geschlechtliche selbst hinaus geht, beginnt das Erotische.

Sie vergleichen Literatur mit Pornographie. 2009 las ein Gymnasiallehrer in Zürich mit seiner Klasse Frühlingserwachen von Frank Wedekind. Eine Mutter zeigte ihn darauf wegen Pornogphie an.

Dieser Fall ist eine Katastrophe und darf nicht zum Präzedenzfall werden. Viele sogenannte Standardwerke wären unter bestimmten Gesichtspunkten nicht mehr lesbar. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Zwei Gangs. Eine Schlägertruppe und eine Mädchengang. Letztere haben sich dem Kodex verschrieben, Sex nur mit Jungs zu haben, die sie vorher im Streetfight besiegt haben. Zwischen zwei Akteuren dieser Gruppen funkt es. Der Junge behauptet, nur erregt zu sein, wenn er das Mädchen vergewaltigt. Die Katastrophe ist unausweichlich. Dem Jungen wird von einem Pitbull die Halsschlagader durchgebissen, das Mädchen begeht Selbstmord. Schön. Das ist Penthesilea von Kleist. Soll man das lesen? Natürlich. Es ist ein absolutes Muss für jeden Schulunterricht. Man kann nirgendwo sonst so viel über das Verhältnis von Gewalt und Sprache lernen wie in diesem Drama.

Wer hat die Definitionsmacht, um zu bestimmen, was gut ist für Gymnasialschüler?

Sie ist nicht klar zugeordnet. Ich plädiere für das Vertrauen in die Lehrkräfte und die Philologien. Die angesprochene Diskussion halte ich für überzogen. Heute kommt eher zu Harmloses in den Unterricht, als dass darunter prekäre Werke wären. Es darf nicht sein, dass aus einer Verängstigung heraus Lehrer ihre Schüler mit langweiligem Mist quälen.

Welches Buch sollte jeder Mensch einmal gelesen haben?

Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing. Es ist die Auseinandersetzung mit einer unausweichlichen Frage: Wie gehen wir mit unterschiedlichen glaubensbasierten Auffassungen von Werten um? Das Buch ist ein Plädoyer für Toleranz.