«Knorrig, eher trocken», beschreibt die Politologin, Regula Stämpfli Hanspeter Kriesi. Annik Hosmann

Der leise Abgang eines Provokateurs

Der Politikwissenschaftler Hanspeter Kriesi war einst zu links für eine Professur. Im Sommer verlässt er die Uni Zürich als Koryphäe in Richtung Florenz.

26. April 2012

Vollblutwissenschaftler, immer erreichbar. Die Türe seines Büros schliesst Hanspeter Kriesi auch für ein Interview nicht. 80 Minuten lang ist er für die ZS da. Und gleichzeitig immer wieder für jeden, der durch die Tür tritt und kurz darauf wieder geht. Alles wie immer. Noch bis Ende Semester. Dann verlässt auch Kriesi das Büro. Ein letztes Mal. Adieu.

Kriesi ist Professor für Politikwissenschaft, 62 Jahre alt, eine Koryphäe im Geschäft. Er leitet an der Uni Zürich den Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft und das Demokratie-Forschungszentrum NCCR Democracy. In gut zwei Jahren würde er hier emeritiert werden, die Personalverordnung der Uni verbietet eine längere Beschäftigung. Nur in ganz seltenen Fällen werden Professoren über das Alter von 65 hinaus angestellt, nicht aber in diesem. Kriesi entgeht der Pensionierung auf andere Weise – er zieht nach Florenz. Ab September wird er dort am renommierten European University Institute arbeiten. Dort lassen viele mit grossem Namen ihre Laufbahn ausklingen.

Typischer 68er

Noch ist die Arbeit hart: NCCR Democracy, ein Lehrstuhl, Gutachtertätigkeiten, das alles gibt zu tun. Und auch in Florenz wird kein goldener Schaukelstuhl stehen. Aber der Zieleinlauf wird lockerer als die Kilometer davor. Es ist kein aus­sergewöhnliches Ende einer Karriere. Interessant an Hanspeter Kriesi ist, wie es dazu kam, dass er heute so gefragt ist.

Ab 1968 studiert Hanspeter Kriesi in Bern Soziologie. Er macht bei der Instituts-Besetzung mit und hilft, einen zu faulen Professor zu stürzen. «Ich war ein typischer 68er.» Vier Jahre danach hat er das Liz in der Tasche. Und nochmals acht später reicht er die Habilitation ein. Mit 31 Jahren. Die Arbeit wirft hohe Wellen, legt neue Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse in der Demokratie offen. Kriesi doziert am Soziologischen Institut in Zürich und begeistert die Studierenden.

Vorlesungen wie Rockkonzerte

Einer, der Kriesis Tun damals schon mitverfolgte, ist der Fernseh-Politologe Claude Longchamp. Er besuchte schon Ende der 70er Kriesis Kurse. «Seine Vorlesungen glichen Rock-Konzerten. Er hatte fast gläubige Fans.» So weit, so schnell, so erfolgreich. Das Problem sollte erst noch folgen.

Darauf angesprochen, überlegt Kriesi lange. Um dann Klartext zu reden: «Ich hatte in der Schweiz keine Chance.» In Zürich ist er als Privatdozent angestellt. Aber keine Universität im Land kann sich in den frühen 80ern vorstellen, ihn als Professor zu beschäftigen. Zu links sei er, ein Achtundsechziger eben. Die politische Meinung als Bremsklotz.

Karriere-Umweg über Amsterdam

Damit nicht genug: Die Jugendunruhen zu Beginn der Achtziger faszinieren den jungen Forscher Kriesi. Er schwingt sich zum führenden Interpreten der Bewegung auf.

Damit fällt er zwischen Stuhl und Bank: Den Behörden missfällt, dass er Kontakt zu den Rädelsführern hat. Und diese verfeinden sich mit ihm, weil er sensible Daten über sie besitzt. Um sie zu stehlen, brechen sie sogar in sein Büro ein. Kollege Longchamp sagt heute über den Büro-Einbruch: «Das war wohl eine wichtige Wende in Kriesis Laufbahn. Danach wurde er zum richtigen, nüchternen Akademiker.» Kriesis Karriere allerdings dreht sich weiter um soziale Bewegungen. Dank seinen Arbeiten zu diesem Thema tritt er 1984 endlich eine Professur an. Im Ausland zwar, in Amsterdam, in «collective political behaviour», als Politikwissenschaftler.

Während den vier Holland-Jahren erarbeitet sich Kriesi einen guten Ruf. Und arbeitet fortan als Professor der Vergleichenden Politikwissenschaft in Genf, 2002 wechselt er nach Zürich. In seinem Fachgebiet ist er über die Landesgrenzen hinaus ein Leuchtturm.

Fast überall beliebt

«Fachlich ist er einer der ganz Grossen», sagt Claude Longchamp. «Zwischenmenschlich ist er mitunter aufbrausend, wenn jemand nicht seiner Meinung ist.» «Knorrig, eher trocken», beschreibt ihn eine andere bekannte Politologin, Regula Stämpfli. Longchamp und Stämpfli sind Personen, die nur beruflich mit Kriesi in Kontakt kamen.

Kriesi meint dazu: «Ich sage, was ich denke.» Und beweist dies auch im Gespräch. «Diese Frage ist falsch gestellt.» «Ein professioneller Journalist würde…» Ansonsten: ein Lämmlein, Typ belesener Grossvater. Er fragt: «Und was

studieren Sie denn?»

Assistierende und Studierende überbieten sich in ihren Lobeshymnen. Die Hierarchie sei flach, seine Didaktik hervorragend. Und was in Gesprächen immer wieder heraussticht: die Begeisterung für das Fach. Kriesi selbst beschreibt sich als «leidenschaftlichen Sozialwissenschaftler». Ein Blick auf sein Profil auf der Instituts-Homepage zeigt: Er hat allein zwischen 1990 und 2000 83 Artikel und Bücher publiziert. Seine Selbstbeschreibung «leidenschaftlich» wirkt untertrieben.

Gefragt wie nie zuvor

Doch so nüchtern und akademisch Kriesi mit den Jahren wurde, das politische Geschehen kommentiert er immer noch. Zum Beispiel an Podiumsdiskussionen wie Mitte März. Das Thema: Medien und Demokratie. Im Gespräch mit SRG-Generaldirektor Roger de Weck und Tagi-Chefredaktor Res Strehle kritisiert Kriesi die Medienlandschaft für ihr Verhalten im Fall Hildebrand. Den Zeitungen liefert er Einschätzungen zu Wahlen oder zum politischen System: Die Schweiz solle sich vom Konkordanzsystem verabschieden. Er zählt dies zu seinen Pflichten. «Der Transfer wissenschaftlicher Resultate in die Öffentlichkeit wird heute von Professoren erwartet.»

Es sind Analysen, die von einem Wissenschaftler stammen, aus der Vogelperspektive kommen. Und doch hat Kriesi noch immer eine politische Meinung. Er beschreibt sich als «generell links». Einem Berufskollegen soll er gesagt haben, er wähle die SP. Ein Problem bei der Arbeit ist das heute nicht mehr. Es zählt die Fachkompetenz. Von der Persona non grata zum allseits akzeptierten Leithammel: Hanspeter Kriesi hat die politikwissenschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte in der Schweiz entscheidend geprägt. Neue Soziale Bewegungen, das Aufkommen neuartiger gesellschaftlicher Konflikte wegen Postmaterialismus und Globalisierung, ganz aktuell ein Buch zu politischer Kommunikation: Kriesis Arbeiten erzeugen Nachhall.

Nachfolge ungelöst

Ab Sommer wird am Institut für Politikwissenschaft eine grosse Lücke klaffen. Einen Nachfolger hat das Institut noch nicht präsentiert. Bis jemand bereit steht, werden Kriesis Assistenten seine Lehraufgaben übernehmen.