Eine Buchbinderin der Zentralbibliothek bei der Arbeit. Natalja Burkhardt

Auf dem Operationstisch der ZB

Zersetzte Ledereinbände, Bücherwürmer und Schimmel. Zu Besuch im «Bücherspital» der Zentralbibliothek Zürich.

26. April 2012

Bücher aus der Zentralbibliothek (ZB) gehören nicht in die Badewanne. Fällt doch eins rein, kommt es ins «Bücherspital». «Das letzte Buch, das ein Student nach einem gemeinsamen Bad in der Wanne zurückgebracht hat, war ausgerechnet vom Autor Feuchtwanger», erzählt

Moena Zeller und lacht.

Seit sieben Jahren arbeitet die Buchbinderin und Restauratorin in der Bestandserhaltung der Zentralbibliothek Zürich. Hier wird geflickt, behandelt, verschönert und auf die Welt gebracht. Immer mit dem Ziel, dass das Buch in der weiten Welt der ZB-Regale besteht und da bleibt bis an sein Lebensende. Droht ein einzigartiges Stück zu verfallen, werden die Daten im Digitalisierungszentrum eingescannt und so unsterblich gemacht.

Playmobil-Figuren und Schokohasen

Das «Bücherspital» liegt im ersten Untergeschoss der ZB, gleich neben der Kantine. In einem grossen Einkaufswagen sind Zeitschriften gesammelt, die auswärts gebunden werden. In Gestellen, Kisten und auf massiven Holztischen stapeln sich Bücher, die auf ihre Behandlung warten. Arbeitsplätze lassen sich nur erahnen. Das Beobachterauge entdeckt im scheinbaren Durcheinander persönliche Attribute: eine Sammlung Playmobil-Figuren, ein Foto, Wasserflaschen und auf jedem Tisch einen goldenen Schokoosterhasen.

Moena Zeller hat ihren Osterhasen schon gegessen. Kein Wunder, die Buchbinderin und Restauratorin liebt Schokolade. «Ein Buch und eine Tafel Schokolade sind das beste Geschenk für mich.» Sie leiht sich oft selber Bücher aus der ZB. «Ich habe immer ein Notizbuch am Arbeitsplatz. Wenn ich ein Buch bearbeite, das mich interessiert, schreibe ich die Signatur auf.» Die Glocken der Predigerkirche schlagen zehn Uhr. Zeller darf in die Pause. «Ist das jetzt nicht ungünstig, wenn die Journalistin noch etwas wissen will?» fragt sie. Der Chef der Bestandserhaltung, Henrik Rörig, sieht das gelassen: «Nö, Pause ist Pause.»

100’000 Neuerwerbungen

Rörig steht vor dem mobilen Büchergestell mit den Neuerwerbungen. Keinem Buch bleibt der Gang durch das «Bücherspital» erspart. Signatur, Strichcode und elektronische Sicherung gehören zur Pflichtausstattung.

Ob es einen stärkeren Einband braucht, entscheidet Rörig aufgrund der Dicke und der Qualität der Bindung. Mit violetten Zetteln sind die «Expresse» – sozusagen Notfälle – markiert. Diese bearbeitet er als erste, weil sie bereits jemand vorreserviert hat. Sobald die Neuerwerbungen ins System aufgenommen sind, können die Benutzenden sie reservieren. Egal, ob sie noch auf dem Operationstisch der Bestandserhaltung oder gar beim Buchbinder liegen.

Die ZB hat im letzten Jahr an die 100’000 Bücher eingekauft. Das sind in etwa 300 täglich, welche die Bestandserhaltung bearbeiten muss. Dazu kommen laufende Reparaturen. «Früher haben wir alle Neuanschaffungen einheitlich binden lassen. Dafür reicht das Geld heute nicht mehr», sagt Rörig. Obwohl die meisten der neun Mitarbeitenden eine Buchbinderlehre vorweisen können, passiert das aufwändige Binden anderswo. «Wir haben hier nicht die richtige Ausrüstung», erklärt Rörig.

Je nach Buch und Zustand kommt es in eine andere Buchbinderei. So arbeiten die einen industriell mit speziellen Maschinen, andere wiederum von Hand. «Vor allem sehr alte, wertvolle Bücher können nur durch sorgfältige Handarbeit restauriert werden». Einfache Restaurierungen jedoch nimmt das Buchbinderteam der ZB hier vor. Der Chef legt grossen Wert darauf, dass alle Mitarbeitenden auch restaurieren können. Ist das nicht der Fall, schickt er sie in eine Weiterbildung.

Zwischen Schimmel und Bücherwurm

Rörig geht rüber zu den Büchern, die auf eine Reparatur warten. Die meisten hier stammen aus vergangenen Jahrhunderten. Er zeigt ein winziges Buch, das von einem Bücherwurm zerfressen ist und neu eingebunden werden muss.Ob wegen Schimmels, eines zersetzten Ledereinbands oder weil die Seiten herausfallen – die Ursachen, warum ein Buch hierher in Behandlung kommt, sind vielseitig. Rörig hofft, dass er bald wieder mehr Zeit hat, am Buch zu arbeiten. Im Moment steht eine Ausstellung an, deren Vorbereitung seine Zeit voll einnimmt. So stellt er das zerfressene Buch zurück ins Regal und macht sich an die Arbeit.

Inzwischen ist Moena Zeller aus der Pause zurückgekommen. Sie kratzt gerade eine abgewetzte Signatur von einem Buchrücken ab. Weiter vorne spannt Zellers Kollegin Regina Meier die unbeschriebenen Signaturzettel in eine alte Tusch-Schreibmaschine ein. Sie tippt auf der farbigen Tastatur die Buchstaben und Zahlen ein. An der Maschine ist ein Tuschfläschchen mit einem aufgesetzten Pinsel festgemacht, der jetzt mechanisch die Linien zieht. «Die Tusche hält viel besser als ein Computerdruck», erklärt Meier. Die fertigen Signaturzettel kommen mit dem entsprechenden Buch einen Tisch weiter, wo wiederum ein anderer Mitarbeiter die Signaturen aufklebt und den neuen Büchern eine elektronische Sicherung verpasst.

Gottfried Kellers Portemonnaie

Verständlicherweise gehört das Signaturabkratzen nicht zu Zellers Lieblinsaufgaben. Viel lieber hat sie beispielsweise Gottfried Kellers Lederportemonnaie in eine Schutzhülle eingepackt.

Steht eine Ausstellung an, bereitet das Buchbinder-Team die historischen Ausstellungsobjekte, wie Gottfried Kellers Teeservice oder persönliche Briefe und Bilder von Kokoschka, vor. «Solche Zeitzeugen in der Hand zu halten, das finde ich faszinierend. In Gottfried Kellers Portemonnaie waren sogar noch getrocknete Blumen drin.»

Doch heute wartet erst mal ein riesiger Stapel Bücher auf Moena Zellers Operationstisch, die mit einer neuen Signatur versehen werden müssen.