Die Japaner ertragen die Katastrophe stoisch, berichteten die hiesigen Medien. Julia und Clarissa zeigen uns ganz andere Bilder.

Vom Erdbeben aufgerüttelt

Zwei Studentinnen erleben die Fukushima-Katastrophe hautnah. Als die japanische Bevölkerung später gegen Atom-Lobby und Behörden protestiert, schauen sie genau hin. So entsteht ein Film über eine Bewegung, die Japan so noch nicht gesehen hat.

11. April 2012

Das Studierendenheim zittert. «Nichts besonderes», denkt sich Julia Leser, schliesslich bebt in Japan die Erde öfters. Doch es bebt immer weiter, immer stärker. Julia ahnt, dass es sich dieses Mal nicht um ein normales Beben handelt. Die ersten Meldungen vom Tsunami kommen in den Nachrichten: Eine ungeheure Flutwelle bricht über die Küsten Japans herein. 24 Stunden später explodiert in Fukushima der Reaktor. Julia, eine deutsche Austauschstudentin der Japanologie, bespricht sich mit ihrer Kollegin Clarissa Seidel, die gerade zu Besuch ist: Sie trauen den japanischen Medienberichten nicht. Ihre Eltern machen sich grosse Sorgen und drängen auf ihre Rückkehr. Zwei Tage später fliegen sie zurück nach Deutschland.

Von dort aus verfolgen Julia und Clarissa das Geschehen in Japan weiter. Die deutschen Medien zeigen ein Land, das sich angesichts der Katastrophe verhält, wie man es von ihm erwartet: Stoisch, arbeitsam und diszipliniert erträgt die Bevölkerung das Leid, räumt auf und beginnt mit dem Wiederaufbau. Doch die beiden schauen genauer hin und hören von einer Demonstration von 15 000 Leuten. Mit Musik und bunten Kostümen, Transparenten und Sprechgesängen zieht ein langer Protestzug durch die Innenstadt Tokios.

Organisiert wird die Demonstration ausgerechnet von einer Gruppe junger Leute, die Julia im Laufe ihres Studiums kennengelernt hat. Julia beschliesst zusammen mit Clarissa, die gerade ihr Studium der Kommunikationswissenschaften abgeschlossen hat, nach Tokio zurückzukehren, um einen Film zu drehen. «Für Japan war das ein historischer Wendepunkt. Seit den 70er-Jahren gab es keine grösseren Demonstrationen mehr. Wir mussten diese Entwicklung einfach dokumentieren», erklärt Julia heute ihre Motivation.

Aufstand der Amateure

Für Julia und Clarissa beginnt eine intensive Zeit. Sie filmen Demonstrationen und sprechen mit verschiedenen Akteuren. Julia, die zu diesem Zeitpunkt bereits drei Semester Japanologie hinter sich hat, kann sich auf Japanisch verständigen. Beim Übersetzen helfen ihre Kommilitonen. Entstanden ist der Dokumentarfilm «Radioactivists – Protest in Japan since Fukushima». Im Zentrum steht die Gruppe «Shiroto no ran» (Aufstand der Amateure). Das sind junge Leute, die sich vegan ernähren und in ihren Läden Second-Hand-Produkte oder alternative Mangas verkaufen. Ein japanischer Politologe bezeichnet die Struktur im Film als eine Art politischer Freundeskreis. Was in Europa zur Grundausstattung jeder Grossstadt gehört, ist für Japan exotisch. «Alternativ zu leben ist in der stark normierten japanischen Gesellschaft sehr schwierig», erklärt Julia.

Die Gruppe wird von ihrem eigenen Erfolg überrascht: Sie melden eine Demonstration für 500 Leute an. Schliesslich kommen 15 000. Beim nächsten mal sind es schon über 20 000. Im Film sind bewegende Bilder dieser Umzüge zu sehen, die von der Lautstärke und den getragenen Outfits her an die Streetparade erinnern. Clarissa und Julia lassen schliesslich verschiedene Intellektuelle zu Wort kommen, die das Phänomen politisch, gesellschaftlich und philosophisch einordnen. So wechseln sich Bilder von Sitzungen der Aktivisten, die auch konkrete Hilfe im Krisengebiet um den Reaktor organisieren, mit Analysen von Wissenschaftlern ab, die die Proteste – im Jahr des arabischen Frühlings – auch in einen internationalen Kontext stellen.

Zwei Julias, ein Forschungsobjekt

In nur drei Wochen hatten die beiden das Filmmaterial zusammen. Während der Dreharbeiten lernte Julia Leser eine Kollegin kennen, mit der sie nicht nur Heimatland und Vornamen, sondern auch das Forschungsobjekt gemeinsam hat: Julia Obinger, die am Lehrstuhl für sozialwissenschaftliche Japanologie in Zürich assistiert. Sie schreibt zur Zeit an einer Dissertation über den «Aufstand der Amateure». Obinger erschrickt zunächst, als sie erfährt, dass jemand einen Film dreht, ausgerechnet über ihr Dissertationsthema. Doch schliesslich kann sie der Überschneidung Positives abgewinnen und unterstützt ihre Kollegin auch konkret. Über eine Crowd-Funding-Webseite spendet sie Leser Geld. Für den Film kommen auf dieser Sammelplattform für Klein- und Kleinstspenden insgesamt 3000 Dollar zusammen.

Politische Herzensangelegenheit

Zum ersten Mal zeigten die beiden Nachwuchsfilmerinnen den Film im Juli 2011 in Tokio. Später wurde er auf kleineren Festivals von Wien bis Rio de Janeiro vorgeführt. In den letzten zwei Monaten waren sie in Europa auf Tour und zeigten den Film sowohl an Unis, also auch vor interessierten Anti-AKW-Aktiven. Für Leser, die mit dem Film weder Geld noch ETCS-Punkte einspielen konnte, ist das Projekt eine Herzensangelegenheit. Nicht zuletzt, weil sie auch ihren Beitrag zur Atom-Debatte leisten will. Sie beteiligt sich in Deutschland selbst an Demos und Aktionen. Doch ihre Kritik geht über das Thema der Atomenergie hinaus: «Japan ist zwar eine etablierte Demokratie, aber Fukushima ist nicht nur eine Naturkatastrophe. Darum ist es wichtig, dass die Leute gegen den Atomkonzern TEPCO, aber auch gegen die Behörden auf die Strasse gehen.» Im Film vertritt der Anarchist Keisuke Narita eine ähnliche Meinung und legt dar, dass der «Aufstand der Amateure» nicht nur eine Anti-AKW-Bewegung ist, sondern auch eine Kritik am japanischen Kapitalismus formuliert.

Die nonkonformistische Gruppe hat sich inzwischen etwas zurückgezogen, weil mehrere Aktivisten vorübergehend festgenommen wurden. Die Repression gegen Demonstrierende wird im Film ebenfalls thematisiert. Aktivisten kritisieren, dass die Polizei sie ohne Angabe von Gründen über längere Zeit festhalten kann. Auch Leser und Seidel konnten nicht immer ungestört filmen. Da sie sich als Touristinnen ausgaben, liess die Polizei sie aber meist gewähren.

Regisseurinnen zeigen Film in Zürich

Für Leser ging diese Woche das Semester an der Universität Leipzig wieder los. Sie schreibt an ihrer Bachelorarbeit über – wie könnte es anders sein – den «Aufstand der Amateure». Am nächsten Donnerstag, 19. April, nimmt sie sich zusammen mit der Koregisseurin Seidel aber die Zeit, ihren Film an der Uni Zürich zu zeigen, eingeladen von Fachkollegin Obinger. Diese erhofft sich davon, dass sich hiesige Japanologiestudierende inspirieren lassen. «Der Film zeigt, dass man auch schon früh im Studium Projekte verwirklichen kann, auch ohne perfekte Japanischkenntnisse», sagt Obinger. Julia Leser rät ihren Zürcher KollegInnen denn auch, beim Japanaufenthalt über den Tellerrand hinaus zu schauen: «Es muss ja kein Film sein, aber ein aktiver Austausch mit der Bevölkerung ist immer eine Bereicherung.»

Filmvorführung «Radioactivists- Protest in Japan since Fukushima», 72 min,

Japanisch mit englischem Untertitel /Englisch,

Anschliessend Diskussion mit den Regisseurinnen:

Donnerstag, 19. April 2012, 18:30 Uhr bis 20:00 Uhr,

Universität Zürich Zentrum, Rämistrasse 71, 8006 Zürich,

Raum: KOL F 150

www.radioactivists.org