Philip Ursprung findet, dass Künstler Stellung beziehen sollten. Stefania Telesca

Kunst als Duschvorhang

Philip Ursprung sagt, Künstler sollen Position beziehen. Der Professor für Architektur- und Kunstgeschichte zu Kultur in Krisenzeiten.

22. März 2012

Philip Ursprungs Blick auf die Kunst ist geprägt von der Wirtschaftsgeschichte und der Entwicklung unserer Gesellschaft. Die ZS führte mit ihm ein Gespräch über Kultur in Zeiten der Krise und die Notwendigkeit, Position zu beziehen.

Professor Ursprung, an welchem Punkt befindet sich derzeit die Kunstwelt?

Ich musste mein Bild in letzter Zeit revidieren. Die Segregation innerhalb der Kunstwelt nimmt zu, befürchte ich. Die Reichen haben einen grossen Teil der Kunst mit sich genommen auf jene Kunstinseln, die vom Geld beherrscht sind, an die Biennale Venedig, die Art Basel und andere Turnusausstellungen.

In Zukunft ist die Kunstwelt also einer internationalen, wirtschaftsstarken Elite vorbehalten?

Noch ist die Kunstwelt im Vergleich zu anderen Industrien, wie der Film- oder Musikindustrie relativ durchlässig. Doch differenziert sich die Ausstellungslandschaft stark. In der Schweiz finde ich die Situation in den grossen Museen desolat. Das Leben spielt sich zur Zeit in den Offspaces, den kleinen, unabhängigen Ausstellungsorten, ab.

Hat die Wirtschaftskrise auch etwas Gutes für die Kunst?

Grundsätzlich hat so eine Krise gar nichts Gutes. Eine Folge davon ist aber, dass sich die Differenzen zwischen den ökonomischen Klassen stärker abzeichnen. Dadurch wird der Druck grösser, Stellung zu beziehen, auch für Künstler.

Sollten Künstler also auch in gesellschaftlichen Fragen eine Haltung haben und diese ausdrücken?

Ja, Position zu beziehen, ist gefragt: Haltung gehört wieder zum kulturellen Kapital. Der Künstler Thomas Hirschhorn ist dafür ein gutes Beispiel. Er hat seine Position immer schon deutlich gemacht und eckte damit lange Zeit an. Jetzt wird er dafür gefeiert.

Das heisst, dass auch die Kunstbetrachter Stellung beziehen müssen und die Bedeutung eines Werkes fixieren sollen.

Ich vertrete eine performative Kunstgeschichte, also eine kunstgeschichtliche Praxis, die das Ich ins Spiel bringt, die Motive und Bedingungen der Historiographen zeigt. Als Autor wird man damit lokalisierbar und angreifbar, was die Diskussion offen hält und weitertreibt.

Ist das Bedürfnis nach klaren Konturen und Positionen etwas, das Sie bei den Studierenden erleben?

Ja. Gerade letztes Semester leitete ich zusammen mit dem Designer Ruedi Baur ein Seminar zum Thema Manifeste. Die Idee ging von den Studierenden aus, die fragten, wieso es das nicht mehr gebe. Ich denke, wir leben in einer opportunistischen Zeit, in der auch in der Politik und den Medien oft abgewartet und laviert wird, bis klar ist, woher der Wind weht. Künstler und Architekten verfügen über gute Medien, um zu zeigen, wo die Grenzen verlaufen.

Wir leben in einer Zeit in der kulturelle Alltagsphänomene wie Fussballspiele und Partys zum Event stilisiert werden. Auch die Kunst ist eventhaft geworden. Was ist Kultur in Abgrenzung zur Kunst?

In dieser Frage beziehe ich mich auf Fredric Jameson. Er geht von der These aus, dass die Sphäre der Kultur seit den 60er-Jahren expandiert. Alles wird kulturell, Politik Ökonomie, Sport. Damit verliert die Kultur die kritische Distanz zur Realität, die sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte. Damals diente Kultur dem aufgeklärten Bürgertum zur Abgrenzung von der Aristokratie und vom Proletariat und konnte beispielsweise als Korrektiv für eine entfesselte Ökonomie wirken. Wenn Jameson Recht hat und die Kultur alles überzieht, kann sie diese kritische Distanz nicht mehr beanspruchen. Ronald Reagan, einst Filmschauspieler, war ja auch ein Repräsentant der Kultur. Und die affektive Industrie nimmt heute den Platz ein, den früher die Schwerindustrie hatte – die Spice Girls machten in den 90er-Jahren mehr Umsatz als British Steel.

Der Kunst sagte man lange nach, sie sei ein Blick von aussen oder habe eine Vorreiterposition in der Gesellschaft.

Diese Stellung hat die Kunst nicht mehr. Sie ist Teil der kulturellen Expansion. Andy Warhols Kunst finden wir auf Kaffeetassen, Picassos Name steht auf Autos, und Edward Munchs «Schrei» ziert Duschvorhänge.

Wenn wir den umfassenden Kulturbegriff von Jameson verwenden, was schreibt man dann in einer Zeitung, wenn die Spalte «Kultur» heisst?

Wie jemand wie Sie, der Jus und Kunstgeschichte studiert, die eigene Gegenwart wahrnimmt. Zum Beispiel: Was bedeutet für Sie die Occupy-Bewegung? Wie beurteilen Sie die Diskussion um die Schweizerische Nationalbank? Kultur bietet die Möglichkeit, bestimmte Dinge besser zu sehen, klarer zu artikulieren. Das «Feuilleton» hiess einst «Unter dem Strich», weil dort eine Perspektive möglich war, die derjenigen auf den Titelseiten der Zeitung widersprechen durfte.

Eine derart subjektive Perspektive klingt nach Kolumne oder Blog.

Mich interessieren subjektive Perspektiven. Nicht im Sinne der persönlichen Befindlichkeit, aber im Sinne der Lokalisierbarkeit der Position, von der aus etwas gesehen und dargestellt wird. Am meisten stört mich in den Geisteswissenschaften der Anspruch auf Neutralität und Objektivität. Viele nennen das «wissenschaftlich», aber in meiner Sicht geht es dabei in erster Linie darum, nicht angreifbar zu sein – mit anderen Worten, um den Erhalt von Macht.

Zur Person

Philip Ursprung wurde 1963 in Baltimore, USA geboren. Er studierte Kunstgeschichte, Allgemeine Geschichte und Germanistik in Genf, Wien und Berlin. 2011 wechselte er vom Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich an die ETH Zürich, wo er Professor für Architektur- und Kunstgeschichte ist.