«Ich bin froh, dass ich überhaupt einen Job habe», sagt der studierte Informatiker und Taxifahrer Loui aus Betlehem. Jan Egil Berg

Vom Student zum Taxifahrer

Im Westjordanland finden sich Studierende nach dem Abschluss auf einem desolaten Stellenmarkt wieder. Viele versuchen darum ihr Glück im Ausland.

23. November 2011

Loui ist Taxifahrer. Der gelbe Lack der Karrosserie blitzt in der Sonne, während er den Wagen geschickt durch die engen Gassen Bethlehems lenkt. Zu fast jedem Gebäude weiss der Palästinenser etwas zu erzählen, und beinahe verpasst er das Ziel, so vertieft ist er in eine seiner Geschichten. Loui ist ein begnadeter Taxifahrer.

Doch eigentlich ist der 28-Jährige Computerspezialist. Fünf Jahre lang hat er Informatik studiert. Während Monaten versuchte er, einen Job in diesem Bereich zu finden. Dann kam sein Sohn zur Welt, jemand musste für die Familie sorgen, und so mietete er sich ein Auto und wurde Taxifahrer.

Loui ist froh, dass er überhaupt einen Job hat. Die Arbeitslosigkeit der 25- bis 29-Jährigen im Westjordanland beträgt fast 22 Prozent. Und dies ist nur die halbe Wahrheit. Die Realität ist noch schlimmer: Die Erwerbsquote dieser Altersgruppe beträgt lediglich 56 Prozent. Das heisst, von allen 25- bis 29-Jährigen aus der Westbank ist nur gut die Hälfte aktiv am Arbeitsmarkt beteiligt, ob erwerbstätig oder auf Arbeitssuche.

Die andere Hälfte, so befürchtet die Weltbank in einem Bericht, gehört zu der steigenden Anzahl von arbeitsfähigen, aber entmutigten Palästinenserinnen und Palästinensern.

Keine Jobs in Palästina

Den Mut schon vor Beginn der Arbeitssuche verloren hat Hamza aus Jerusalem. Der 22-Jährige studiert im dritten Jahr Betriebswirtschaft an der Universität Birzeit in Ramallah. Auf die Frage, ob er glaube, eine Stelle in diesem Bereich zu finden, schüttelt er traurig den Kopf. Zeit gewinnen mit einem Masterstudium will er auch nicht, denn seine Freundin und er wollen bald heiraten. «Ein Mann in Palästina kann erst heiraten, wenn er sein eigenes Haus hat. Das kann sich kein Student leisten.» Deshalb sei er bereit, jeden Job anzunehmen.

Wenig Hoffnung macht sich auch Amir (21). Er studiert Automechatronik an der Palestine Polytechnic University in Hebron. «Für uns gibt es in Palästina keine Jobs», sagt er resigniert. Wie viele seiner Mitstudierenden plant er deshalb, nach dem fünfjährigen Studium in die Vereinigten Arabischen Emirate oder nach Saudi-Arabien auszuwandern. «Dort reissen sie sich um palästinensische Absolventen, speziell von unserem Institut», sagt Amir.

Zu wenig Praxis im Studium

Von denen, die in ihrem Fachgebiet bleiben wollen, ziehen viele weg, auch ins Ausland. Dort scheint auch kein Hindernis zu sein, was die Weltbank als Diskrepanz zwischen den von den palästinensischen Studierenden angebotenen und den vom Markt nachgefragten Fähigkeiten bezeichnet: Gemäss Industrievertretern sammeln die jungen Palästinenserinnen und Palästinenser im Studium zu wenig praktische Erfahrungen.

Der Medizintechnikstudent Basil stimmt zu: Die zwei einmonatigen Praktika, welche sie in den fünf Jahren Studium absolvieren müssen, reichten bei weitem nicht aus, um für den Markt gerüstet zu sein. Die Palestine Polytechnic University hat reagiert und nun ein Synergie-Zentrum gegründet, wo sich Universität und Industrie treffen und über ihre jeweiligen Bedürfnisse austauschen können.

Die Wirtschaft in Israels Händen

Bei allen Bemühungen dürfe man nicht vergessen, dass die Wirtschaft Palästinas in Israels Händen liege, gibt Ramzy Qawasma zu bedenken. Er ist Assistenzprofessor und im Synergie-Zentrum engagiert. «Es gibt sicher noch Raum für wirtschaftliches Wachstum. Aber letztlich bestimmt Israel, wo die Grenzen sind.»

Gemäss einem letztjährigen Bericht der Weltbank ist zwar ein leichter Aufschwung im Privatsektor zu erkennen. Gleichzeitig stellte sie aber fest, dass Israel weiterhin auf verschiedenen Ebenen eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in den palästinensischen Gebieten verhindert.

Vor allem der Industriesektor ist betroffen – es herrschen Importrestriktionen für Rohmaterialien, Maschinen und auch einige Chemikalien. Desaströs ist der beschränkte Zugang zu Wasser und Land – 59 Prozent der Westbank sind komplett unter der Kontrolle Israels, welches darin jegliche Bautätigkeit unterbindet.

Weniger fassbar, aber speziell für ausländische Investoren entscheidend, ist die generelle Ungewissheit – etwa, ob die gewünschten Experten eine Arbeitsbewilligung erhalten oder ob das benötigte Material rechtzeitig den Checkpoint passieren kann.

57 Studierende starben

Wirtschaftsentwicklung hin oder her: Worüber alle, Studierende und Professoren, froh sind, ist die allgemeine Verbesserung der Sicherheitslage in den letzten drei, vier Jahren. «Während der zweiten Intifada sind 57 Studierende unserer Universität umgekommen», sagt Ala Abu Dheer, der an der An-Najah National University von Nablus für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist.

In jenen dunklen Jahren mussten Tausende von Studierenden an Dutzenden von Checkpoints stundenlang auf Durchlass warten. Sofern sie von der israelischen Armee nicht vorher schon wieder heimgeschickt worden waren.

Der 24-jährige Jusstudent Mustafa hat den zweiten palästinensischen Aufstand am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Nachdem er vor sechs Jahren sein Studium in Nablus aufgenommen hatte, stürmten eines Nachts israelische Soldaten in sein Haus, um ihn für 14 Monate hinter Gitter zu stecken. Ein Bekannter hatte angegeben, er sei in der Hamas aktiv. Unterkriegen liess er sich davon nicht. Heute gehört er zu den wenigen palästinensischen Studenten, die ohne Sorgen in die Zukunft blicken. Vor einigen Jahren, erklärt er, im Chaos der zweiten Intifada, habe sich niemand um Gesetze geschert.

Heute hingegen gebe es Instanzen, welche darum besorgt seien, dass das Recht eingehalten werde. «Es ist das goldene Zeitalter für Anwälte», sagt er lächelnd. Unter seinem Hemdsärmel blitzt eine schwere Uhr hervor.

Dank dem Taxibusiness kann auch Loui einigermassen sorgenlos in die Zukunft blicken. Glaubt er, irgendwann doch noch eine Stelle in der Computerindustrie zu finden? «Inshallah», sagt er lächelnd, so Gott will. Bis es so weit ist, repariert er gratis die Computer von Freunden – und chauffiert glückliche Taxikunden herum.