Bis spät in die Nacht hinein arbeiten die Architekturstudierenden noch an ihren Modellen. Nina Lanzi

Gestresste Genies

Architektur gilt als härtester Studiengang. Eine Spurensuche zwischen Leistungsdruck und Selbstinszenierung.

20. Oktober 2011

Sam klickt. Und klickt. Und klickt. In seine Stirn graben sich tiefe Falten. Morgen muss das Bundeshaus fertig sein. Hinter ihm klicken seine Kommilitonen. Unter ihm – er hat den begehrten Platz im ersten Stock in der Nähe des Raucherbalkons ergattert – klicken sie im Akkord. Sam sitzt mit 20 Mitstudierenden im Architekturpavillon HIP auf dem Campus Hönggerberg. Es ist Mittwoch, zehn Uhr, abends.

Die meisten der angehenden Architektinnen und Architekten sind über matt-silberne Laptops der bei Künstlern und Grafikern beliebten Marke mit dem angebissenen Apfel gebeugt. Andere basteln an ihrem Kartonmodell. Es riecht nach Leim und Holz. In der Mitte des barackenähnlichen Provisoriums steht ein grosses Holzmodell der Stadt Zürich: Hier soll bis zum Semesterende das Bundeshaus der Zukunft gebaut werden. Noch ist es nicht soweit. Das Semester ist erst zwei Wochen alt. Was dagegen erwartet wird, ist eine erste Skizze, und die muss morgen fertig sein. Deshalb ist Sams Entwurfklasse auch noch fast komplett an ihrem Arbeitsplatz.

Lange Präsenzzeiten ist sich Sam nach fünf Semestern bereits gewohnt. Sein Mitstudent Michi, ebenfalls im

5. Semester, stimmt ihm zu. Was im Moment am Hönggerberg ablaufe, sei noch gar nichts. «Du musst Ende des Semesters kommen, dann laufen hier nur noch Leichen herum.» Je näher der Abgabetermin der Projekte rückt, desto seltener geht das Licht aus.

Im Zentrum des Architekturstudiums steht der «Entwurf», was bedeutet, dass in jedem Semester ein Bauprojekt entworfen werden muss: Skizzen anfertigen, Pläne zeichnen und schliesslich in mühseliger Kleinarbeit aus Karton ein Modell zusammenbasteln. Wird das entworfene Projekt als ungenügend bewertet, muss der Kurs wiederholt werden.

Die meisten Studierenden waren für ihren Entwurf schon mehr als 24 Stunden am Stück auf dem Campus. «Im ersten Jahr haben wir uns noch für ein paar Stunden in Vorlesungssälen schlafen gelegt und wurden am nächsten Morgen vom Putzpersonal geweckt», erinnert sich Sam. «Heute kommt es auch vor, dass ich durcharbeite. Aber dann gehe ich nach Hause, schlafe ein paar Stunden, dusche und komme wieder.»

Nachtschichten als Ritual

Nächtelang durcharbeiten unter stetigem Leistungsdruck: Die Psychologische Beratungsstelle der Universität und ETH müsste von Architekten geradezu gestürmt werden. Ulrich Frischknecht, Leiter der Beratungsstelle, winkt ab: «Es gibt keinen Studiengang, der überdurchschnittlich oft unter den bei uns Hilfe suchenden vertreten ist.» Er betont, dass er nur mit knapp drei Prozent der Architekturstudierenden Kontakt habe. Diese würden vor allem über den Stress und die hohe Belastung klagen. «Zum Teil wird Kritik als zu hart und als unfair empfunden. Es kommt zu sozialen Stresssituationen, zum Beispiel, wenn ein Assistent seine Meinung sagt und der Kritisierte dies persönlich nimmt.»

Die «legendären» Abschlusswochen mit 24-Stunden-Tagen findet Frischknecht aus psychologischer Sicht nicht bedenklich. «Ein Teil schafft es auch ohne diese Nachtschichten. Andere machen das gerne und inszenieren sich auf diese Weise. Für sie ist es ein Ritual.» Schädlich sei das nicht.

Nebenjob auf Dauer unmöglich

Nadine zappt. Und zappt. Und zappt. Die Architekturstudentin hat mit Sam zusammen das Studium begonnen, doch sie ist in keinem der Pavillons zu finden.

Nadine hält nichts von Frischknechts Ritualtheorie: «Was die von einem verlangen, ist einfach nicht normal. Klar gibt es auch Studierende, die mit weniger Aufwand und ohne Nachtschichten durchkommen, aber dann müssen sie schon sehr, sehr gut sein.»

Sie sitzt zu Hause vor dem Fernseher und schaut mit ihren Mitbewohnern Fernsehserien. Lange Zeit war das für sie unvorstellbar. Nadine hatte neben dem Studium 40 Prozent gearbeitet: im Sommer als Bademeisterin und im Winter in einer Bar. Da blieb keine Zeit fürs Fernsehen. Die wenigsten ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen arbeiten neben dem Studium. Sie leben auf Kosten ihrer Eltern oder von Stipendien.

Auf Dauer wurde es auch Nadine zu viel, sie nimmt dieses Semester eine Auszeit. Obwohl sie die Prüfungen bestanden hat, überlegt sie, ganz aufzuhören. In einem halben Jahr will sie entscheiden, ob sie den Bachelor noch macht. Es fehlen ihr nur noch wenige Punkte. «Den Master werde ich aber bestimmt nicht machen», sagt sie.

Nadine zappt auf den nächsten Kanal. Sie nimmt sich die Auszeit nicht nur, um Geld zu verdienen. Auch ihr Privatleben kam zu kurz während den letzten Semestern. «Neben dem Studium kannst du genau noch eine Sache machen: Entweder du hast ein Hobby, du arbeitest oder du hast einen Freund. Alles zusammen liegt nicht drin.»

Das Problem liege vor allem am grossen Aufwand, den die Studierenden für den Entwurf aufbringen müssten.

Florian, der sich im Fachverein der Architekturstudierenden, dem «architektura», engagiert, kennt das Problem: «Es ist hart, während des Semesters Vorlesung und Atelierarbeit unter einen Hut zu bringen.» Mit anderen Worten: Die Studierenden tüfteln Tag und Nacht an ihren Entwürfen und schwänzen dafür die Vorlesung. Vor den Prüfungen müssen sie sich dann den Stoff selber erarbeiten. Der Entwurf gilt unter Studierenden als «versteckter Numerus Clausus».

Stress als Berufsvorbereitung

Den Begriff «Numerus Clausus» erachtet Sacha Menz, Vorsteher des Departements Architektur der ETH, in diesem Zusammenhang als falsch. «Wir haben keine Beschränkung der Studienplätze.» Menz macht aber kein Geheimis daraus, dass Architektur ein harter Studiengang sei. «Wir bilden keine Hochbauzeichner aus», sagt er. Wer an der ETH

abschliesse, solle ein breites Wissen über den gesamten Bauprozess haben und auf den «äusserst anspruchsvollen und harten Berufsalltag» vorbereitet sein. Menz weiss, wovon er spricht. Er betreibt neben seiner Tätigkeit an der ETH ein Architekturbüro. Weil die Mittel der ETH beschränkt sind, sei es nicht sein Ziel, möglichst viele Studienabgänger zu haben, sondern die Leute mit Potenzial gezielt zu fördern. Er strebe kleinere Klassen an, die es ermöglichten, näher an den Auszubildenden zu sein. Durch schwierige Prüfungen und anspruchsvolle Projekte sollen die Besten selektioniert werden. «Wir streben Exzellenz an. Architektur soll kein Massenstudiengang sein», sagt Menz.

Tatsächlich wird die «Masse» immer grösser. Die Anzahl der Studierenden nahm seit der Einführung des Bachelorstudienganges vor sieben Jahren von gegen 1300 auf knapp 2000 im Jahr 2010 zu. Die neue Studienordnung, die seit diesem Semester in Kraft ist, hat laut Menz aber bereits dazu beigetragen, diesen Trend zu bremsen. Sie sei zusammen mit den Studierenden und Assistierenden entwickelt worden.

Im letzen Jahr wurde rund ein Drittel der Studierenden aussortiert: Im Herbstsemester 2010 starteten 303 Maturanden und Maturandinnen ins Architekturstudium. Heute sind von ihnen noch 187 übrig.

Harte Umgangsformen

Nadine schaltet den Fernseher aus. «Was mir auch Mühe macht, ist dieses Elitegehabe. Man wird von den Dozenten ständig gepusht.» Die Selektion der «Exzellenten» und «Belastbaren» hat ihren Preis. Ulrich Frischknecht vom Psychologischen Dienst hört von den Architekten in spe, die sich an ihn wenden, dass Dozierende im ersten Semester offen sagen, dass die Hälfte der Studierenden sowieso fehl am Platz sei. Wegen des grossen Andrangs auf das Studium sei dies in den letzten Jahren immer öfter vorgekommen. Die Assistierenden hätten zu wenig Zeit für die einzelnen Studierenden und seien teilweise überfordert.

Das geht auch anders: Nadines Freund Fabian arbeitet bei einem Architekten, der an der ETH doziert. Fabian hat seinen Bachelor aber nicht am Hönggerberg gemacht, sondern besuchte die Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Die Betreuung sei an der ZHAW besser als an der ETH, sagt Fabian. «An der ZHAW kennen dich die Dozierenden und machen auch mal eine Ausnahme, wenn du es nicht schaffst, einen Entwurf zur geforderten Zeit einzureichen», sagt er. Mehr Zeitdruck führe zudem nicht zu besseren Entwürfen. Die Studierenden würden einfach von bestehenden Projeten kopieren, statt etwas Eigenes zu erarbeiten. Fabian beobachtet auch einen unterschiedlichen Habitus bei Studierenden der ETH. «ZHAW-Studierende kommen meist aus der Baubranche und arbeiten nach dem Studium vielfach als Angestellte, während viele ETHler das Ziel haben, sich selbständig zu machen oder zumindest eine Führungspositon zu übernehmen.» Darum stünden sie zusätzlich unter Druck.

Kultur der Grossartigkeit

Ähnliches beobachtet der Psychologe Frischknecht bei den Architekturstudierenden, die sich an ihn wenden. Er spricht vom «einzigen Studiengang für Künstler an der ETH». Architektur sei ein stark emotionalisiertes Fach. «Es wird eine Kultur der Grossartigkeit und der Genialität gepflegt. Da ist es hilfreich, wenn man ein gutes Selbstbewusstsein hat und harte Kritik ertragen kann.» Probleme gebe es, wenn Studierende ihrem Fach gegenüber eine höhere Loyalität als gegenüber sich selbst entwickelten oder den Sinn für die Realität verlören. «Wer denkt, er sei der neue Botta, setzt sich zu sehr unter Druck und ist mit seinen eigenen Ansprüchen überfordert.»

Studieren unter Druck

Die angehenden Architekten stehen unter hohem Druck: Weil sie unbedingt das nächste Gesicht auf der Zehnfrankennote sein wollen oder weil sei zwischen Entwurf-Projekten und Prüfungen aufgerieben werden. Oder beides zusammen.

Sam stellt sich in die Schlange vor dem Plotter. Ungeduldig wartet er, bis die Pläne für sein Bundeshaus ausgedruckt sind. Es ist kurz vor zwölf.

Sam kann dem Druck, der auf ihm lastet, auch positive Seiten abgewinnen. «Als Architekt hast du später eine grosse gesellschaftliche Verantwortung. Du kannst unter Umständen das Stadtbild mitprägen. Da ist es auch wichtig, dass man das Maximum aus dem Studium herausholt. Und das ist mit dem enstprechenden Stress verbunden.» Sagts und öffnet sein Feierabendbier. Ein Erstsemestriger drängt sich an ihm vorbei und hastet in den Lift. Er muss noch an seinem Entwurf arbeiten. Morgen ist Projektabgabe.◊