Marija mit ihrer sieben Monate alten Tochter Lucija. Marko Jovanovic

Architektur: ein Kinderspiel

Als wäre ihr Studium nicht schon stressig genug, wird Marija mitten im Semester Mutter. Trotzdem besteht sie alle Prüfungen.

20. Oktober 2011

Marija sitzt gemütlich im Schneidersitz auf ihrem Sofa und isst Maroni, die ihr Freund Marko gemacht hat. Ihre gemeinsame Wohnung ist modern gehalten. Trotzdem fühlt es sich heimelig an mit den vielen Stofftieren auf dem Sofa und offenen Büchern und Zeichnungen auf dem Arbeitstisch. Marko sitzt am PC und arbeitet an einem Modell. Die beiden studieren Architektur an der ETH. Nebenan im Schlafzimmer schläft ihre siebenmonatige Tochter Lucija.

Es war ein Sonntag, der 20. März 2011, als Lucija zur Welt kam. Marija war gerade mal 21 Jahre alt und im dritten Jahr ihres Architekturstudiums. Am Freitag, zwei Tage vor der Geburt, besuchte sie noch eine Vorlesung an der ETH. Viele dachten, sie spinne. «Aber die Fruchtblase hätte auch auf der Strasse oder beim Einkaufen platzen können. Hätte ich einfach daheim bleiben sollen und warten?» Die Woche nach der Geburt war ohnehin gerade Seminarreise und somit vorlesungsfreie Zeit. «Das fand ich super – eine Woche weniger, die ich verpasse.» Nach weiteren drei Wochen kamen die Osterferien, und danach war Marija bereits wieder an der Uni.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Ihre Mutter machte das damals ähnlich. Auch sie studierte noch Architektur, als Marija zur Welt kam. So ist sie als Kroatin in Luzern aufgewachsen, und bereits in der Primarschule war Marija klar, dass sie Architektin werden möchte. Ende der Kantonsschule wollte sie auf keinen Fall das gleiche wie ihre Mutter studieren. Und doch landete sie an den Infotagen der ETH und wusste: «Das ist es!» Marija kämpft gerade mit der Schale einer hartnäckigen Maroni. Am Arbeitstisch nebenan starrt Marko noch immer konzentriert auf den Bildschirm. Daran, dass sich die Beiden für Architektur interessieren, kann kein Zweifel bestehen. Zeugen davon sind unter anderem die beeindruckende Auslage an Architektur- und Bildbänden auf dem langen Sideboard in ihrem Wohnzimmer. Ein gelbes Plüschbärchen mit einer Schlaufe und ein pinkes Winnie Pooh-Kissen zeigen aber, dass Architekur nicht das Einzige in ihrem Leben ist.

Eine Musterstudentin

Im Sommer nach der Geburt hat Marija vier Prüfungen geschrieben, alle bestanden, und das mit einem guten Durchschnitt. Ihre Beziehung zum Architekturstudium bezeichnet Marija als Hassliebe. «Manchmal habe ich das Gefühl, meine Grenzen zu überschreiten.»

Auch wenn sie es nicht immer genies­sen kann, bezeichnet sie es als einen der Gründe, wieso sie das Studium so liebt. Es fordert viel, aber gibt noch mehr zurück. Die Vielseitigkeit des Studiums ist ein weiterer Grund, wieso Architektur das Richtige für Marija ist. Sie empfindet ihr Studium als zeitaufwändig, schön und inspirierend. Wobei sie das Zeitaufwändige als durchaus positiv bewertet. «Die Architektur verlangt sehr viele Entbehrungen. Der Tag hat nun mal nur 24 Stunden.» So hat Marija zum Beispiel aufgehört, Klavier zu spielen. Auch für Freunde oder das Ausgehen bleibt weniger Zeit. Am meisten stört sie aber, dass ihr kaum Zeit bleibt, andere Länder zu entdecken. «Immer sagen sie, man solle seinen Horizont erweitern und so viel wie möglich reisen. Da frage ich mich natürlich schon: Ja, wann?» Auch arbeiten kann sie während dem Studium nicht. Die meisten Architekturstudierenden, sagt Marija, seien aber ohnehin aus reichem Elternhaus und brauchten nicht zu arbeiten. «Die sind dann aber nicht nur reich, sondern wirklich brutal reich», betont sie. Einer habe ihr mal einen Kofferraum voll Schuhe gezeigt. «Die waren bestimmt mehr wert als das ganze Haus, in dem wir wohnen!», lacht sie.

Schlaflose Nächte

Ihre Welt sieht ein wenig anders aus. Marija bleibt bei Semesterbeginn jeweils bis 20 Uhr an der Uni. Wenn sie an einem Projekt arbeitet, bleibt sie sogar bis um zehn Uhr abends an der ETH. Im ersten Jahr des Bachelor sei sie jeweils nie vor Mitternacht ins Bett gekommen. Damals schrieb sie neun Prüfungen. Als sie im Sommer 2010 schwanger wurde, stand sie vor sechs Prüfungen und blieb jeweils bis 22 Uhr an der ETH. Anfangs Frühlingssemester, als sie dann hochschwanger war, ging sie etwas früher nach Hause. Gereicht hat es immer. Bisher musste Marija noch keine Prüfung wiederholen. Alles scheint irgendwie selbstverständlich zu sein. Sie hat auch schon einige Male an der ETH übernachtet. Unter Übernachten versteht sie Durcharbeiten. Für manche Leute sei das beinahe ein Kult. Ihr Ding sei es aber nicht. «Die eine Hälfte der Nacht arbeitest du, die andere Hälfte rennst du umher und plauderst.» Die Architekten seien selbst schuld daran, dass sie immer so lange «dort oben» sind, vermutet sie mit einem Achselzucken. Während der Schwangerschaft blieb Marija aber nie über Nacht an der ETH. Trotzdem erlebe man die Zeit vor den Prüfungen als sehr intensiv. Ein Student habe während der Prüfungszeit einmal selbstgemachte Sandwiches verkauft.

Marko wendet sich von seinem Modell ab und sagt lachend: «Die Sandwiches ist er für sieben Franken pro Stück losgeworden. Auch wir haben welche gekauft.» – «Ja logisch. Ich war ja auch schwanger und musste essen», verteidigt sich Marija. In dieser Zeit würden sich bestimmt auch selbstgemachter Kaffee oder Zigarettenpäckchen für 20 Franken gut verkaufen. Alle sind nur noch gestresst und haben keine Zeit zu verlieren.

Selbstgebrannter Schnaps

Es gebe auch faule Architekturstudierende, erzählt Marija. «Also faul ist jetzt vielleicht das falsche Wort. Halt für meine Verhältnisse faul.» Es gibt aber auch Leute, die behaupten, dass sie kaum was fürs Architekturstudium machen. Ob das stimmt, bezweifelt Marija. «Mach dir nichts vor», denkt sie sich dann. Sie sind schliesslich alle am selben Ort, und von nichts kommt nichts. Grundlegend muss jeder viel leisten. Beim Lernen gäbe es aber gewisse Unterschiede. «Ich glaube nicht, dass alle so viel lernen wie ich», sagt sie.

Marko steht auf und kehrt mit einer Flasche Schnaps zurück. «Den hat Marijas Grossvater aus Djakovo selbst gebrannt», sagt er und setzt sich wieder an den PC. Er entwirft gerade ein Giraffen- und Nashornhaus für den Zoo. Die Projekte, welche die beiden in ihrem Studium entwerfen, sind vielfältig. Marija wollte immer einmal ein Fussballstadion entwerfen. Schon als Kind war sie eingefleischter Fan von Dinamo Zagreb. Heute wäre das Traumprojekt vielleicht das Eigenheim. Wie das aber auszusehen hätte, kann sie noch nicht sagen. Auf jeden Fall würde sie es sehr funktional gestalten. Alles soll seinen Platz haben und funktionieren. Ein Ausstellungsobjekt aus einem Hochglanzmagazin käme für sie nicht in Frage. Sie will sich wohl fühlen. Auch ihr gemeinsames Zuhause findet sie «mega schön».

«Bist du schwanger?»

Marija und Marko haben sich an der ETH kennengelernt. «Man hockt ständig aufeinander, irgendwann wird einem langweilig!», sagt sie und lacht. Die Pärchen in ihrem Jahrgang kann sie an einer Hand abzählen. «Also die offiziellen. Was zwischendurch so läuft, weiss ich nicht», sagt Marija. Aber dafür interessiert sie sich auch zu wenig. Ihr Umfeld hat durchaus positiv auf die Schwangerschaft und ihre Entscheidung, weiter zu studieren, reagiert. Besonders ihre engsten Freunde gaben ihr Motivation: «Marija, wenns jemand schafft, dann du!»

Viele Kommilitonen wussten nichts von ihrer Schwangerschaft. Der Babybauch hatte sich lange nicht abgezeichnet. Und später hat Marija auch eher weite Kleidung getragen, um nicht aufzufallen. Viele haben bis zum Schluss nichts gemerkt oder sich zumindest nichts anmerken lassen. Nur einer äusserte, dass Marija unproportional zugenommen habe. Eher unsensibel sprach ein Assistent die Schwangerschaft an. Vor versammelter Studentenschaft, fragte er: «Marija, bist du schwanger?» Marija lacht: «Er hätte das durchaus diskreter machen können.» Aber verleugnet habe sie die Schwangerschaft nie. Dafür ist sie zu stolz. Ein zweites Baby während dem Studium kommt aber auch für sie nicht in Frage. «Das fände ich unverantwortlich.» Und doch hat Marija das Gefühl, dass sie durch Lucija viel ruhiger geworden ist, weniger gestresst sogar. «Wenn ich gestresst bin, ist sie es auch, und sie gibt es durch Weinen zu erkennen.»

Unterstützung der Kindertagesstätte

Als sich Marija mitten im Gespräch erheben möchte, ist Marko schon aus seinem Stuhl gesprungen. Er sagt etwas auf Kroatisch und gehts ins Schlafzimmer. Gerade ist die Kleine erwacht. Beide haben intuitiv sofort reagiert, obwohl kaum ein Geräusch zu hören war. «Lucija schläft noch nicht durch. Seit sie gezahnt hat, erwacht sie mehrmals in der Nacht», sagt Marija.

Markos Gesang klingt sanft aus dem Zimmer und vermischt sich mit Lucijas leisem Weinen. Marija fährt in ihrer Erzählung fort.

Wenn Lucija in der Nacht erwache, sei sie nicht wirklich wach. Sie will dann nur kurz die Brust und schläft gleich wieder ein. Auch Marija merke das kaum, da sie zu dritt im Bett schlafen.

Die kleine Familie kommt bestens zurecht. Einzig von der Kindertagesstätte der ETH und der Uni (Kihz) hätte Marija sich mehr Unterstützung erhofft. «So ein Seich!», sagt sie plötzlich aufgebracht. «Das könnt ihr gross in die Zeitung schreiben.»

Enttäuschende Kihz

Erst vor zwei Wochen hat sie eine E-Mail erhalten, in der sie ankreuzen konnte, für wie viele Tage sie die Kindertagesstätte in Anspruch nehmen wolle. Wenn Marija ihr Studium, oder wie momentan ihr Praktikum, fortsetzen will, braucht sie die Kindertagesstätte beinahe jeden Tag unter der Woche. «Die haben mir ein Angebot gemacht für den Montag, Dienstagnachmittag, Mittwochmorgen und den Freitag. Ich könnte so nicht weiterstudieren», sagt Marija. Auch ihr Praktikum hätte sie so nicht in Angriff nehmen können. «Das ist natürlich sehr enttäuschend.» Auch mit Antworten liess die Kihz wochenlang auf sich warten. Glücklicherweise hat Marija eine andere Kindertagesstätte für Lucija gefunden. Die Kleine ist noch immer wach. «Er schaffts nicht!», sagt sie und geht lächelnd ins Schlafzimmer um Marko abzulösen.

Strahlendes Lächeln

Auf die Frage, wie Marija das alles hingekriegt hat, sagt Marko: «Mütter sind einfach Übermenschen.» Auch bei alleinerziehenden Müttern mit drei Kindern klappe es irgendwie. Das habe er früher nie verstanden. Sie hätten aber auch viel Unterstützung von ihren Eltern.

Auch er scheint, genau wie Marija, in vielem zuversichtlich zu sein. So hat er zum Beispiel keine Angst davor, später keine Arbeit zu finden. «Wenn du gut bist, findest du immer einen Job als Architekt», sagt er selbstsicher.

Schliesslich kommt Marija mit der kleinen Lucija auf dem Arm ins Wohnzimmer. Ganz alles scheint also auch Marija nicht unter Kontrolle zu haben. «Die Kleine will einfach nicht schlafen.» Beim Anblick von Lucija wird aber sofort klar, wie Marija sonst alles meistert.

Mit grossen blauen Augen und einem strahlenden Lächeln erhellt Lucija wortwörtlich den Raum. «Sie strahlt immer so. Ich glaube, sie weiss ganz genau, was für eine Wirkung das auf Leute hat», sagt Marija stolz. Sie selber lächelt auch ständig. Zumindest wenn sie von Lucija oder ihrem geliebt-gehassten Architekturstudium spricht.