Hanna in ihrer WG, die fast ausschliesslich mit Second-Hand-Mobiliar eingerichtet ist. Aladin Klieber

Wohnen aus zweiter Hand

Beim Kauf im Brockenhaus denkt Hanna an Recycling. Doch wer die WG mit alten Möbeln ausstattet, ist vor allem eines: in.

22. September 2011

Hanna stochert müde in ihrem Haferflockenmüesli. Viel mehr hat sie an diesem Sonntagmorgen in ihrer Küche nicht gefunden. «Ich weiss nicht, ob ich viel über die Second-Hand-Kultur erzählen kann», sagt sie. Sie selbst besuche Brockenhäuser nur, wenn sie etwas brauche. Und dennoch: Der Stubentisch ist aus einem Brockenhaus, das gelbe Tischchen von ihrem Vater, der Couchtisch von der Strasse und die rote Ständerlampe von der Grossmutter ihrer Mitbewohnerin. Ihre Einrichtung stammt komplett aus zweiter Hand. Auch aus der Müeslischale assen einst fremde Menschen Haferflocken.

Mekka für Second-Hand

Die Philosophiestudentin ist bei weitem nicht die Einzige, die eine Schwäche für Gebrauchtwaren hat. Zürich bietet nicht umsonst ein riesiges Angebot an Waren aus zweiter Hand. In knapp 20 Brockenhäusern in der Stadt Zürich und weiteren 20 in der Agglomeration finden Second-Hand-Liebhaber stilvolle Holzmöbel, funktionale Küchengeräte für die neue WG oder gut erhaltene Reclambücher für das Studium. Der Kanzleiflohmarkt gehört längst nicht mehr nur für Ausländer und Sammler zum fixen Samstagmorgen-Programm. Gut betuchte Designliebhaber finden wertvolle Stücke aus zweiter Hand in den zahlreichen Vintage-Läden in den Kreisen 3, 4 und 5.

Drogensüchtige an den Kassen

Die Bedeutung des Gebrauchtwarenverkaufs hat sich in den letzten Jahren stark von ihrem Ursprung entfernt. Im Spätmittelalter bildete der Flohmarkt einen organisierten Handelsplatz für arme Menschen. Ausgehend von diesem Konzept wurden im 19. Jahrhundert die ersten Brockenhäuser in der Schweiz gegründet. Sie verfolgten christlich-karitative Zwecke. Die Grundidee war, Bedürftigen unter die Arme zu greifen und sozial Benachteiligten eine Arbeitsmöglichkeit zu bieten.

Letzteres ist nach wie vor verbreitet. Nicht selten stehen Asylsuchende, Drogensüchtige oder Arbeitslose hinter den Brockikassen und fuhrwerken im Lager oder der Schreinerei. Oft fliesst der Gewinn an wohltätige Organisationen.

Vom Angebot der Brockenhäuser machen heute jedoch nicht mehr ausschliesslich arme Leute Gebrauch. «Ein Grossteil unserer Kundschaft sind Händler und nicht der arme Mann», sagt Michel Conus, Präsident des Brockenhauses «Freunde von Emmaus», gegenüber dem «Bund».

Marktabhängige Preise

Durch diesen Trend sind Brockenhäuser salonfähig und Gebrauchtwaren marktfähig geworden. Mit der gesteigerten Nachfrage nach wertvollen Einzelstücken sind die Preise in die Höhe geschossen. Wegen der zahlreichen Internetplattformen wie eBay und Ricardo werden Schatzstücke aus dem letzten Jahrhundert meist gar nicht mehr gratis in Brockenhäusern abgegeben. Geschäftsführer Willy Röthlisberger vom «Bärner Brocki plus» meinte gegenüber dem «Bund»: «Ich würde gerne billiger verkaufen, aber es ist schwierig. Die Preise orientieren sich unter anderem am Internet.» Offensichtlich gibt es genügend Leute, welche bereit sind, für einen Designersessel aus den 70ern locker mal ein paar Hundert Franken hinzublättern. Und wenn es nach einer Räumung doch mal Designerkleider, Lampen oder antike Tische ins Brockenhaus schaffen, stehen die Händler bereits bei Türöffnung vor dem Haus und stauben die Fundstücke ab, noch bevor diese überhaupt auf die Ladenfläche kommen.

Konsum aus Spass

Hanna findet die Vintagewelt «zum Kotzen», «auf die Spitze getrieben», «fast dekadent». «Der Bogen33 verkauft rostige Tische für 300 Franken, das ist, als ob ‹arm sein› chic sei.» Die Philosophiestudentin versucht ihren Unmut zu erklären: «In Vintage- und Second-Hand-Shops geht es darum, viel Geld für schöne Sachen und eine coole Wohnung auszugeben.» Hanna hegt eine Abneigung gegen den unnötigen Konsum. Sie selbst streift nie nur zum Spass durch irgendwelche Läden. Sie sucht gezielt, was sie braucht, und dafür ist für sie ein Brockenhaus der ideale Ort. Bisher hat sie da auch alles gefunden – bis auf einen Wäscheständer. Zig Brockenhäuser durchstreifte sie mit ihrer Mitbewohnerin, bis sie verzweifelt die Suche aufgaben. «Wir hatten im Ernst vergessen, dass es noch andere Läden gibt als Brockis», sagt Hanna und schüttelt lachend den Kopf. Den Wäscheständer fanden sie schliesslich in der Migros.

Gierige Händler

Das Brocki-Land in der Fahrweid macht nach wie vor zehn Räumungen pro Tag. Da findet sich immer das eine oder andere wertvolle Stück. «Zur Zeit kommen viele Möbel aus den 70ern, da nun die 40er Jahrgänge sterben», sagt Manuela Meyer, langjährige Mitarbeiterin des Brocki-Lands. Das sei noch praktisch, da die Nachfrage nach diesen Stücken momentan gross sei. Besonders der Filiale in Dietikon rennen die Händler die Türen ein. Die scharen sich um 10 Uhr vor dem Laden und lauern den ganzen Tag den ankommenden Lastwagen auf. «Dann stürzen sie sich gierig auf die Ware – es könnte ihnen ja etwas entgehen», sagt Meyer unwirsch. Manchmal seien bei Räumungen die Händler sogar vorher vor Ort und schnappten gleich die gut erhaltene Ware weg. «90 Prozent von dem was übrigbleibt, müssen wir dann entsorgen – das ist ein Problem.» Denn die Entsorgungskosten muss schliesslich das Brocki-Land selbst übernehmen.

Im Zürcher Brockenhaus lassen sich Händler nicht mehr blicken. Geschäftsführer Ueli Müller mochte diese Stimmung nicht. Um 10 Uhr morgens seien sie ins Geschäft gestürmt, ohne Grüezi zu sagen. «Und wenn wir für einen Horgen-Glarus-Stuhl 80 Franken verlangten, sagten sie mit verächtlicher Miene, sie würden nur 12 bezahlen», sagt Müller. Er verurteile sie nicht, betont er, er kenne selbst viele Händler und sei mit einigen befreundet. Eher störe ihn der mangelnde Respekt und das Nichtzeigen der Freude, wenn sie etwas Günstiges finden. «Ich habe wahnsinnig gerne eine gute Stimmung im Haus, und dazu gehört auch Freude.»

Second-Hand aus Überzeugung

Hannas Freude hingegen ist gross, wenn sie etwas Billiges in einem Brockenhaus findet. Keines ihrer Brockimöbel hat mehr als 80 Franken gekostet. Dennoch ist für sie der Preis allein nicht ausschlaggebend. Die Philosophiestudentin nennt zwei Hauptgründe, warum sie das Brockenhaus herkömmlichen Warenhäusern vorzieht: «Einerseits aus Überzeugung und andererseits aus ästhetischen Gründen. Ich finde es sinnlos, dass so viel neue Ware produziert wird, wenn es noch gut erhaltene Gebrauchtwaren gibt. Und häufig gefallen mir alte Sachen schlicht besser.» Hanna beschafft sich vor allem Möbel und praktische Dinge wie Vasen, Lampen, Geschirr oder einen Reiserucksack in den Brockenhäusern. Kleider kauft sie kaum mehr welche, diese übernimmt sie in erster Linie von Freundinnen. «Und wenn ich doch mal was dringend brauche, gehe ich schon auch in den H&M», gesteht sie. Da Hanna sonst eigentlich alles im Brockenhaus findet, was sie braucht, ist sie an Flohmärkten erst gar nicht anzutreffen. Obwohl auch hier Zürichs Angebot wächst.

Auch Flohmärkte boomen

Nach wie vor dominieren die beiden Flohmärkte auf dem Bürkliplatz und im Kanzleiareal. Der Quartierflohmarkt im Bullingerhof mag kaum jemandem bekannt sein. Keine zehn Gehminuten von der Bullingerüberbauung entfernt, wird seit Sommer 2010 auch am Fritschi-Flohmi fleissig gefeilscht. Dieser geniesst trotz der Nähe zum Kanzleiareal und dem Bullingerhof immer höheren Bekanntheitsgrad. Das Bedürfnis nach Flohmärkten sei gross, sagten dessen Initiantinnen, welche den Montagsmarkt in der Rimini-Bar führen, gegenüber der NZZ. Während am Fritschi-Flohmi vor allem junge Leute aufkreuzen, wird der Kanzleiflohmarkt von den unterschiedlichsten Menschen überrannt.

Nichts für Langschläfer

Wer freitagnachts um 3 Uhr an der Langstrasse rumtorkelt, weiss, dass der Ansturm auf die Verkaufsplätze am Kanzleiflohmi gross ist. Dann versammeln sich nämlich die ersten Hardcore-Flohmigänger vor den Eingangstoren des Kanzleiareals. Ab 5.30 Uhr verteilen die Marktwächter in den orangen Leuchtjacken Zettel mit den Nummern 1 bis 40. Wer dann ganz vorne steht, kriegt die Nummer 1 und darf als erstes in den Hof stürmen. Luana, eine junge Verkäuferin, trudelt um 5 Uhr ein und kriegt lediglich die Zwölf. Ab Punkt 7 Uhr verlesen die Wächter die Nummern, worauf die Verkaufenden im Sekundentakt ins Areal sprinten und ihr Tuch am möglichst besten Platz ausbreiten. Sobald alle 40 durch sind, dürfen die Spätaufsteher reinrennen, die keine Nummer mehr ergattern konnten. Zu diesen gehört die Wirtschaftsstudentin Nicole.

Die Preise an den Flohmärkten sind gleich stark vom Retroboom betroffen wie die Preise in den Brockenhäusern. Vor allem Studierende, welche ausgemistete Kleider, Schuhe, CDs oder alte Kinderspielsachen verkaufen, sind in erster Linie froh, wenn die Ware wegkommt. Dass es für einige doch bloss ein Geschäft oder sogar eine wichtige Einnahmequelle ist, verrät Nicole. «Einmal verkaufte ich eine Ledertasche für 5 Franken und wenig später entdeckte ich sie an einem anderen Stand, angeschrieben mit 25 Franken.»

Nicole geht es in erster Linie darum, die Sachen loszuwerden. Kurz vor 16.00 Uhr vergibt alles gratis. «Ich will nichts mehr mitnehmen.» Bei Luana ist es ähnlich. Sie geht einmal pro Jahr mit ihren ausgemisteten Sachen an den Kanzlei­flohmarkt – und dann ist sie froh, wenn sie möglichst viel verkauft. Eine Stunde vor Schluss darf man auch bei ihr mutiger sein – gratis jedoch gibt sie nichts ab.

Taffe Afrikanerinnen

Ein Kunde interessiert sich für Luanas Minibügeleisen. Sie will 2 Franken dafür, worauf er ihr entgegenruft: «Gratis? Gratis?» Luana sagt bestimmt: «Nein, nichts gratis.» Er zieht ab. Feilschen gehöre dazu, klar. Doch manchmal müsse man aufpassen. Sie habe schon Szenen beobachtet, wo der Verkäufer regelrecht Angst bekam wegen der energischen Handelsstrategie einer Käuferin. «Afrikanische Frauen können ziemlich taff sein. Sie machen immer dieses entsetzte Gesicht, wenn sie den Preis hören, und rufen laut aus», erzählt Luana. Auch Nicole ist das Temperament der Afrikanerinnen aufgefallen. Am anstrengendsten findet sie jedoch die anderen Flohmihändler, die noch vor dem Einlass der Besuchenden alles durchwühlen. «Während ich die Sachen auslegte, kamen immer wieder Leute und stöberten in den unausgepackten Kisten.» So wurde ihr die Chipkarte aus der alten Digicam gestohlen, ohne dass sie es bemerkte.

«Schon rechte Freaks»

Die Spanischstudentin Andrea mag vor allem die spezielle Atmosphäre hier. Einmal pro Monat verkauft sie gesammelte Gegenstände am Kanzleiflohmarkt. Sie freut sich ob der spannenden Begegnungen mit den verschiedensten Menschen. «Einige sind schon rechte Freaks. Es gibt beispielsweise diese Frau, welche jedes Mal nach Esoterikbüchern fragt.»

Luana findet es schön, dass der Flohmarkt nach wie vor eine Anlaufstelle für ärmere Menschen ist. «Bei gewissen Leuten merkt man, wie froh sie sind, billige Sachen zu finden.» Natürlich wimmle es auch von «Szenis», die hier ihre Retrosachen finden. Das kritisiert sie am Fritschi-Flohmi, der ihrer Meinung nach nur noch ein «Szenetreff» sei. Da gehe doch der Sinn völlig verloren. «Klar, ganz ausnehmen kann ich mich nicht. Auch ich habe mir gerade ein paar Retrostühle gekauft.» Sie findet nicht, das sie auf einen Trendzug aufgesprungen wäre. Als Kind liebte sie Flohmärkte und ihre Eltern hätten aus finanziellen Gründen viel aus zweiter Hand gekauft. Wie Luana empfindet auch Hanna ihre Vorliebe für Gebrauchtwaren nicht als etwas Neues. Bei ihren Eltern stehen kaum neue Möbel. In ihrer Kindheit war es für sie normal, auf den Geburtstag einen Schrank oder eine Kommode aus dem Brockenhaus zu bekommen.

«Eigentlich bin ich genauso»

Hanna überlegt, warum sie dieser Trend so anwidert. «Es ist wie mit den Bioprodukten.» Einerseits findet sie es toll, wenn mehr Leute auf Bio achten, andererseits mag sie die Mode nicht, da Produzenten nicht mehr aus Überzeugung auf biologische Haltung achten. «Dann habe ich plötzlich keine Lust mehr, Bio oder eben Second-Hand zu kaufen. Was natürlich auch Blödsinn ist.» Hanna lacht, dann schweigt sie. «Ich finde es unterstützenswert, wenn vermehrt Leute auf Gebrauchtwaren zurückgreifen.» Für sie ein Zeichen des Antikonsums. Wird es jedoch aufgrund des Trends für Geldmacherei missbraucht, kann von Antikonsum kaum mehr die Rede sein.

Hanna resigniert. «Ich habe immer das Gefühl, die anderen seien so schlimm, aber eigentlich bin ich genauso.» Sie wohnt im Kreis 5 in einer Altbauwohnung, geht ins Brocki, kauft Bio und ist gegen Konsum. Die Haferflocken hat sie mittlerweile ausgegessen. Gedankenversunken schiebt Hanna ihre Müeslischale auf die Seite. Brockenhäuser in Zürich

Arche................................Kreis 9

Berta................................Kreis 3

Brocki Altstetten...............Kreis 9

Brocki am Güterbahnhof...Kreis 4

Brocki-Land.......................Kreis 3

Brockito.............................Kreis 11

Brocki West.......................Kreis 9

Bücher Brocky....................Kreis 2

Caritas Kleider.................. Kreis 4, 5, 7, 11

Emmaus.............................Kreis 7

FOS Antik...........................Kreis 7

Fundsachenverkauf...........Kreis 2

Heilsarmee.........................Kreis 5

Hiob...................................Kreis 11

Occasioni............................Kreis 3

Tigel...................................Kreis 8

Zürcher Brockenhaus.........Kreis 5 Flohmärkte in Zürich

Bullingerhof........................Kreis 4

Bürkliplatz..........................Kreis 1

Fritschi...............................Kreis 3

Kanzlei...............................Kreis 4 Nützliche Links

www.nichtneu.ch

www.auszweiterhand.ch

www.wann-ist-flohmarkt.ch

www.provelozuerich/veloboersen.html