Die Normen der EDK wurden aufgeweicht, warnen Kritiker. Philip Schaufelberger

Lehrkräfte im Schnelldurchgang

Nach nur sechs Monaten Ausbildung sollen Quereinsteigende Primarschulklassen unterrichten. Der «Fast Track»-Studiengang ist umstritten.

5. Mai 2011

Silvia Nolmans ist rastlos. Sie habe keine Zeit, um sich mit der ZS für ein längeres Gespräch zu treffen, sagt sie am Telefon. Dennoch ist sie bei einem zweiten Telefon kaum zu stoppen. Begeistert erzählt die ehemalige Journalistin von ihrem neuen Leben.

Vor der 48-Jährigen liegt das erste Mal seit über 20 Jahren wieder ein gros­ser Stapel mit Hausaufgaben, den sie selber durcharbeiten muss. Am 28. Februar ist sie erstmals seit langem wieder in einer Schulbank gesessen – damit ist für die Mutter dreier Kinder ein grosser Traum in Erfüllung gegangen.

Damit ist Silvia Nolmans nicht die Einzige. Mit 70 anderen Quereinsteigenden hat sie an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) eine Ausbildung zur Primarlehrerin begonnen.

In dieser «Fast Track»-Ausbildung erarbeiten sich die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer in eineinhalb Jahren das A und O der Didaktik. Nach nur sechs Monaten übernehmen die frischgebackenen Lehrerinnen und Lehrer bereits eine Primarschulklasse (siehe Kasten).

Massnahme gegen Lehrermangel

«Fast Track», so lautet die Zürcher Antwort auf den herrschenden Mangel an Lehrkräften. Die Mitstudierenden von Nolmans sind eine bunte Truppe: «Von der Opernsängerin über klassische Phil. I-Abgänger bis zu Architekten ist alles dabei.» Welche Voraussetzungen müssen sie mitbringen, um überhaupt an der PHZH studieren zu können? Max Iseli ist Verantwortlicher für die Quereinsteiger-Ausbildungen Primarstufe an der PHZH. Er betont vor allem, dass die Lebenserfahrung der Quereinsteigenden einen grossen Einfluss auf deren Kompetenz hat: «Die Studierenden müssen über 30 Jahre alt sein und zusätzlich zur Matura noch einen Bachelor einer Fachhochschule oder Universität mitbringen.»

Ausserdem werde verlangt, dass entweder das abgeschlossene Studium oder der bisherige Beruf etwas mit dem Lehrberuf zu tun habe. Als Beispiel nennt er einen Bachelor in Pädagogik, Psychologie, Sozialwissenschaften oder in den Kommunikationswissenschaften.

Silvia Nolmans hat keines dieser Fächer studiert. Nach ihrem Geschichtsstudium mit den Nebenfächern Germanistik und Nordistik hat sie aber als Journalistin gearbeitet. Ihre Erfahrungen in diesem kommunikativen Beruf seien von der PHZH für genügend affin befunden worden, erzählt Nolmans.

Dies sei eine Ausnahmesituation, meint Max Iseli. Daraus abzuleiten, dass einfach jeder den «Fast Track»-Studiengang besuchen könne, sei nicht richtig. Schliesslich habe die PHZH von 200 Bewerbenden nur etwa einen Drittel in den Studiengang aufgenommen.

Das Aufnahmeverfahren bestand für diejenigen, welche die Aufnahmekriterien im weitesten Sinne erfüllten, vor allen Dingen aus zwei Schnuppertagen und der Einschätzung eines dreiköpfigen Expertenteams. «Ausserdem mussten wir uns wiederholt selbst einschätzen, ob wir für den Lehrberuf auch wirklich geeignet sind oder nicht», erinnert sich Nolmans. Diese Selbsteinschätzungen präsentierten sie dann dem Exepertenteam und wurden dazu kritisch befragt. Zudem mussten alle eine schriftliche Prüfung ablegen: Die Quereinsteigenden beschrieben, wie sie ein fiktives soziales Problem an einer Schule lösen würden.

Ein Wunsch geht in Erfüllung

Als grösste Hürde empfand Nolmans jedoch «die grundsätzliche Entscheidung, noch einmal etwas komplett Neues anzufangen». Sie habe insgeheim schon immer mit dem Gedanken gespielt, Lehrerin zu werden. Spätestens als ihre Kinder ins Schulalter kamen, habe sie gewusst, dass dies ihre «Berufung» sei. «Eine mehrjährige Ausbildung kam für mich allerdings nicht in Frage», sagt Nolmans. So habe sie sich mit der «Fast Track»-Ausbildung ihren Wunsch erfüllen können. Dementsprechend begeistert ist die ehemalige Journalistin von der Ausbildung und freut sich, im Sommer eine eigene Primarschulklasse zu übernehmen.

Das Praktikum als Ernstfall

Der «Fast Track»-Studiengang stösst nicht bei allen auf Begeisterung. Beat Zemp ist der Zentralpräsident des Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Er bezweifelt, dass Lebenserfahrung und ein affiner Beruf alleine schon ausreichen, um Lehrer zu werden. Er warnt: «Nicht jeder, der Modellflugzeuge fliegt, bringt die Voraussetzungen zu einem guten Piloten mit.» Grundsätzlich befürworte er Quereinsteigermodelle für den Lehrberuf. Bei denen, die in diesem Alter entscheiden, sich noch einmal vollkommen neu zu orientieren, könne man davon ausgehen, dass sie diesen Beruf auch wirklich ausüben wollen.

Doch Beat Zemp warnt vor Schnellschüssen. Er findet es heikel, dass die «Fast Track»-Lehrkräfte im zweiten Teil ihrer Ausbildung bereits als vollwertige Lehrerinnen und Lehrer arbeiten und eine eigene Klasse übernehmen. Dadurch werde ein Praktikum zum Ernstfall gemacht. Denn er betont: «Der Lehrberuf ist anspruchsvoll und verlangt gut ausgebildetes Personal.»

Die gleichen Prüfungen

Doch bevor die Quereinsteigenden eine Klasse übernehmen, üben sie den Ernstfall in zwei mehrwöchigen Praktika. Das erste hat Silvia Nolmans bereits hinter sich. Es sei intensiv gewesen, doch sie habe sehr davon profitieren können. Nolmans ist überzeugt, dass sie im Sommer eine Klasse übernehmen kann. Natürlich sei die Zeit kurz, doch sie bringe schon einiges an Vorwissen aus dem ersten Studium mit. Aus­serdem lege sie am Ende die gleichen Prüfungen ab wie diejenigen Studierenden, welche die dreijährige Ausbildung absolvieren. Ist es möglich, dass die Studierenden des Schnellstudiums die gleichen Prüfungen ablegen können? Max Iseli relativiert: «Die Prüfungen sind grundsätzlich die gleichen. Beim ‹Fast Track› wird natürlich der Stoff im Umfang angepasst.» Es würden die gleiche Kompetenzen geprüft. Berücksichtigt werde dabei die einjährige Praxiserfahrung.

Wechselnde Rahmenbedingungen

Katarina findet es unfair, dass einige nach nur drei Semestern einen gleichwertigen Bachelor erhalten wie sie nach sechs. Die 22-jährige PHZH-Studentin wäre mit dem «Fast Track» bereits Primarschullehrerin. Zum jetzigen Zeitpunkt würde sie sich das aber noch nicht zutrauen, alleine eine Klasse zu übernehmen. Auch wenn sie schon Erfahrungen in Praktika sammeln konnte. Katarina zweifelt auch an den Qualifikationen der Quereinsteigenden: «Nur weil eine Soziologie oder etwas Ähnliches studiert hat, heisst das noch lange nicht, dass sie vor eine Klasse stehen kann.»

Miriam (24) ist bereits Lehrerin und unterrichtet eine 5. Klasse. Auch sie beäugt die «Fast Track»-Ausbildung kritisch. Als sie vor zwei Jahren die PH abschloss hat, sei sie nur ungenügend vorbereitet gewesen. «Ich wurde ins kalte Wasser geworfen und hatte am Anfang Mühe, mich zurechtzufinden», erinnert sich Miriam. Sie könne sich nicht vorstellen, wie man nach einem halben Jahr schon eine Klasse übernehmen soll.

Veränderte Normen

Auch Experten sind gegenüber dieser «Schnellbleiche» skeptisch. So hat die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) den «Fast Track»-Studiengang noch nicht anerkannt. Das Diplom wird lediglich in sechs Kantonen akzeptiert. St. Gallen ist einer der Kantone, die «Fast Track»-Lehrerinnen und -Lehrer nicht anerkennen. Der Prorektor der PH St. Gallen, Jürg Sonderegger, bemängelt: «Durch die neue Schnellausbildung wird mit zwei ungleichen Ellen gemessen. Das ist nicht gut. So werden die Normen der EDK aufgeweicht.» Sonderegger kritisiert vor allem, dass der Bachelor abgewertet wird, wenn ihn die «Fast Track»-Studierenden bereits in der Hälfte der Zeit mit nicht einmal halb so vielen ECTS-Punkten erhalten. Damit gehe die PHZH einen Schritt zu weit. «Das ist berufspolitisch fragwürdig. Zudem wird die Hochschulausbildung in Frage gestellt und abgewertet», bemängelt Sonderegger. Ins gleiche Horn bläst auch Beat Zemp vom Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer: «Bei Quereinsteigermodellen wie dem ‹Fast Track›-Programm ist die Gefahr gross, dass bestehende Normen unterwandert werden und die Qualität der Volksschule abgebaut wird.» Max Iseli von der PHZH weist darauf hin, dass der Lehrermangel akut sei. Schliesslich habe die Bildungsdirektion des Kantons Zürich die PHZH dazu aufgefordert, eine entsprechende Ausbildung zu schaffen. Der Ausbildungsgang wird erst einmal auf drei Jahrgänge beschränkt.

Jürg Sonderegger ist sich der problematischen Situation durchaus bewusst: «‹Fast Track› ist eine aus dem Lehrermangel logische Schlussfolgerung.» Das anerkennt auch Zemp. Und eigentlich befürworten grundsätzlich beide, dass mit dem neuen Diskurs die bestehenden Normen hinterfragt werden. Der Lehrberuf soll auch attraktiv für Umsteigerinnen und Umsteiger werden. Sie warnen bloss vor Schnellschüssen.

«Das Leben umgekrempelt»

Silvia Nolmans hat vorerst andere Sorgen. Sie bemüht sich gerade um ihre erste Stelle als Primarlehrerin. Dafür schreibt sie Bewerbungen an diverse Schulen im Kanton Zürich. In ihrem zweiten Praktikum soll sie nämlich bereits an der Schule schnuppern, wo sie im Sommer dann unterrichten wird. Um sich diesen Traum zu erfüllen, hat sie ihr Leben umgekrempelt. «Ich bin sehr froh, dass mich mein Mann und die Kinder absolut darin unterstützen», sagt Nolmans, und in ihrer Stimme ist die Begeisterung deutlich hörbar.

Sie entschuldigt sich, sie habe wirklich keine Zeit mehr, um noch länger zu telefonieren. Ihre Aufmerksamkeit widmet sie wieder voll und ganz ihrer neuen Berufung.

Denn Silvia Nolmans will bloss eines: vor die Klasse stehen und unterrichten.

«Fast Track»-Primarstufe

Ende Februar 2011 haben 71 Quereinsteigende an der PHZH und am Institut Unterstrass den Studiengang «Fast Track»-Primarstufe begonnen. Die «intensive Ausbildungsphase» dauert sechs Monate. Weitere 12 Monate lehren die Quereinsteigenden an einer Primarschule zu 50-80 Prozent. Während dieser Zeit besuchen sie die PHZH noch an einem Tag pro Woche.

Alle Abgängerinnen und Abgänger erhalten einen vollwertigen Bachelor von der PHZH und ein Lehrdiplom, welches von der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) aber nicht anerkannt ist.

Vergleich zwischen dem «Fast Track»-Studiengang und der regulären Ausbildung an der PHZH (in Klammern):

Dauer

1.5 Jahre (3 Jahre)

ECTS

Total: 78 (180)

Bildung und Erziehung: 11 (40.5)

Berufspraxis: 11 (42)

Didaktik: 56 (97.5)

Bachelor

BA of Arts in Primary Education (beide).

Lehrdiplom

Gültig in den Kantonen ZH, BE, BL, BS, AG und SO, welche ähnliche Ausbildungen haben (in der ganzen Schweiz).