Die Müdigkeit erfasst Andreas auch nüchtern im Zug. Anja Hasse

Nüchtern in vollen Zügen

Zwei Mädchen. Eine Cola. Null Promille. Trocken durch die Samstagnacht. Ein Protokoll.

24. Februar 2011

Das letzte Mal länger als 20 Minuten Zug gefahren bin ich im Sommer. Jetzt liegen mehrere Stunden Nachtstrecke vor mir. Nüchtern. So habe ich den Nachtzug noch nie erlebt.

Zürich HB, 00:59 Uhr

Ich stehe auf dem Perron 23 / 24 und überlege mir, wohin es als Erstes gehen soll. Eine Gruppe Jugendlicher rennt oder, besser gesagt, stolpert die Treppe runter. Die Mädchen und Jungs, vielleicht 16 Jahre alt, machen schon um diese Zeit einen nicht mehr allzu nüchternen Eindruck. Unter sägendem Gelächter und ausgestattet mit halbvollen Flaschen, in denen sich rote und grüne Flüssigkeiten befinden, betreten sie den wartenden Zug. Ich setze mich in ihr Abteil.

SN5 Richtung Pfäffikon SZ, 01:02 Uhr

Die ersten Minuten vergehen ohne gros­se Überraschungen. Es wird gelacht, gelallt, von der «geilen Party» geschwärmt, und die Höhepunkte des Abends werden aufgezählt: «D’ Salome isch use eis go rauche und gseht de Giuseppe mit ere andere umemache. Die sind voll no nöd lang usenand!» Sie reden sehr laut, das Kichern der Mädchen wirkt stark übertrieben. Ich habe vergessen, wie einem betrunkene Kids auf den Wecker gehen können. Ein Junge torkelt am mir vorbei, aus dem Zwischenabteil höre ich ihn fluchen. «Scheisse, Mann!» Die Toilette ist nicht benutzbar, er muss weitersuchen. Als er zurückkommt, ärgert er sich über die Strenge seiner Mutter und darüber, dass er um halb zwei zu Hause sein muss. Allen Gesellschaftskritikern zum Trotz gibt es also auch heutzutage noch so etwas wie elterliche Fürsorge. Die Clique steigt in Uster aus und ich mit ihnen.

SN7 Richtung Bassersdorf, 02:11 Uhr

Das Abteil ist gefüllt mit Menschen. Betrunkene Jugendliche dominieren auch hier die Szene, die Anzahl heimkehrender Partygänger ist erreicht den Höchststand. Links von mir schlafen zwei junge Mädchen, sie stützen sich dabei gegenseitig. Von der lauten Welt um sie herum – es wird gejohlt und gekichert – scheinen sie nichts mitzubekommen, sie haben sich ausgeklinkt.

Trotz der kalten Nacht sind sie nur knapp bekleidet, man erkennt mehr, als ihnen und vor allem mir lieb sein kann. «Wie ist es wohl, mit so wenig Stoff einen ganzen kalten Abend herumlaufen zu müssen?» Als eines der Mädchen die Augen langsam und schwerfällig öffnet und im ersten Moment verwirrt um sich schaut, überlege ich mir eine Sekunde lang, sie danach zu fragen. Ich komme aber nicht dazu, im nächsten Augenblick sind ihre Augen wieder geschlossen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich einer der Ältesten sein muss. Ich schaue mich um und erblicke gegenüber ein gutgekleidetes Paar. Ich schätze Mitte 30. Es sieht nach Theaterbesuch und anschlies­sendem Guter-Wein-mit-guten-Freunden-und-guten-Gesprächen-Umtrunk aus und passt nicht an diesen Ort.

Weiter vorne erklingt Musik. Laute, schlechte Musik in mieser Qualität. Niemand scheint sich daran zu stören, nur der Theatermann schaut ab und zu genervt in Richtung des Lärms. Er sagt aber nichts. Auch ich beginne langsam, mich über die fünf Hobby-DJs aufzuregen. Wie kann man nur so doof sein und andere Mitreisende dermassen stören?

Ich beneide die Mädchen, die immer noch schlafen und sich nicht stören lassen. Am liebsten würde ich rübergehen und den Jungs klarmachen, dass man auch Kopfhörer benutzen kann. Um Ärger zu vermeiden, lasse ich es aber sein und rege mich wie der Theatermann innerlich auf. Dass sich die fünf von mir nichts hätten sagen lassen, wird klar, als der Zugbegleiter sie bittet, den Krach leiser zu machen. Sie schnöden ihn an, der eine macht einen aggressiveren Eindruck. Nach kurzer Diskussion geben sie aber klein bei, und ich steige in Kloten aus. Die Mädchen fahren weiter. Hoffentlich haben sie ihre Haltestelle nicht verschlafen.

SN8 Richtung Lachen, 03:13 Uhr

Mittlerweile bin ich sehr müde, obwohl ich vor meinem Ausflug ein paar Stunden geschlafen habe. Ich trinke eine lauwarme Cola in der Hoffnung, wacher zu werden. Dasselbe Bild auch in diesem Zug: lauter übernächtigte, halbtote Gestalten. Im Vorbeigehen sehe ich welche, die sich noch eine Dose Bier zutrauen. Ein Mann schläft mit einer solchen in der Hand und mir tun die Leute leid, die die sich anbahnende Sauerei am Morgen aufwischen müssen.

Die Stimmung ist ruhiger als in den anderen Zügen. Nur ab und zu hört man ein kurzes Gespräch, danach herrscht wieder Stille. Die fortgeschrittene Uhrzeit fordert erste Opfer.

Das grelle Kunstlicht im Abteil stört mich, und deshalb laufe ich durch die Gänge. Die Müdigkeit überkommt mich nun vollends, ich möchte raus aus dem Leichenzug. Ich setze mich zu einem älteren Tamilen hin, der einen sehr erholten Eindruck macht. Er komme aber nicht vom Ausgang, oder? «Nein, von der Arbeit», antwortet er. Als Lagerist in der Nachtschicht fährt er nun schon seit über einem Jahr jeden Sonntagmorgen mit diesem Zug nach Hause.

Er findet mein Unterfangen, eine Nacht lang Zug zu fahren, seltsam. Das wäre nichts für ihn, «einfach so herumzusitzen». Er lacht. Nachtschichten können ihm nichts anhaben. «Man gewöhnt sich an alles. Ich kann schlafen, wenn alle anderen arbeiten müssen.» Und all die Betrunkenen? Die stören ihn eigentlich nicht, die meisten würden ja schlafen und vor schlafenden Besoffenen habe er keine Angst. In Thalwil verabschiede ich mich von dem freundlichen Mann, und er wünscht mir alles Gute.

Bahnhof Hardbrücke, 04:05 Uhr

Hier steige ich aus und lasse all die Betrunkenen, schlafenden Mädchen und Nachtarbeiter hinter mir. Ich steige in ein Taxi und frage mich, ob der Fahrer mich für einen von ihnen hält. Ich bewundere ihn, muss er doch jedes Wochenende nüchtern mit Betrunkenen fahren. ◊