Der Baron auf einem der ihm verbleidenden Sofas. Lukas Messmer

Der Baron ist mit seinem Latein am Ende

Erst gingen die Frauen. Dann das Erbe. Und jetzt ist auch er weg. Meinhard von Seckendorff hat sein ewiges Studium abgebrochen.

24. Februar 2011

Die Lage ist kritisch. Im Januar vergangenen Jahres verliess der Freiherr Meinhard von Seckendorff nach 90 Semestern die Universität Zürich und kehrte auf sein Schloss im märkischen Obernzenn zurück.

Er kehrte zurück mit leeren Taschen, dafür mit der Hoffnung, die Heimat bald wieder verlassen zu können. Doch nur die begüterte und poetisch veranlagte Cousine Celia könnte den Freiherrn aus dem Schlamassel holen.

Meinhard Erich Peter von Seckendorff, 66 Jahre, Baron, Privatgelehrter, Frauenliebhaber, Hoteldauergast und ewiger Student, ist ein kleingewachsener Herr mit adligen Manieren, schlohweissen Haaren und einem gutmütigen Lächeln im runden Gesicht.

Bedrückt sitzt er im Schlosswohnzimmer, duckt sich vor den grimmigen Blicken der Vorfahren, deren Bilder er noch nicht verkauft hat, und sagt: «Vielleicht hätte ich doch besser einen Beruf ergriffen, als ich jung war.» Denn das Erbe, das ist jetzt weg.

Der Baron war in Rage, als ich ihn nach einer längeren Suche endlich am Telefon hatte. Seine Sätze sprudelten durch den Hörer, dass mir schwindlig wurde.

Gerade sei er dabei, den antiken Sekretär zu räumen, den er seinem Cousin Graf Rainer verkaufe, dann erzählte er von Cousine Jutta, die eigentlich eine Tante sei und ihn um 400’000 Euro betrogen habe, von der Anwältin Möller, die ihn vor Gewinnspielfirmen schützt, und von einer Philosophiedozentin, bei der er nicht landen konnte.

Meinhard von Seckendorff war hocherfreut, dass ich ihn besuchen wollte. «Nur schade, dass ich mein Gästezimmer schon veräussern musste», bedauerte er.

Obernzenn ist ein deprimierendes 2000-Seelen-Dorf inmitten der Wald-und-Hügel-Geografie Nordbayerns. Der Bus vergisst manchmal zu stoppen. Die verwaisten Strassen sind mit Werbung für Altgold zugepflastert. Und im Eingangsbereich des Supermarktes sollte man besser die Luft anhalten.

Verblichene Tapeten

Gleich neben dem Supermarkt wohnt der Baron. Das Seckendorffsche Familienanwesen, erbaut im 18. Jahrhundert, ist ein blau-rotes Zwillingsschloss.

Das Blaue Schloss ist herausgeputzt, grenzt nordseitig an einen englischen Garten und lockt mit seiner Gemäldesammlung Busladungen von Touristen an. Hier wohnt der Graf Rainer von Seckendorff. Das Rote Schloss wirkt vernachlässigt, hat ein Baugerüst vor der Südnase und ist mit einem schlammigen Burggraben eingezogen. Hier wohnt Meinhard von Seckendorff.

Als ich die Einfahrt hochlaufe, steht er bereits auf der Schlossbrücke. Mit Schirm und zu langem Mantel strahlt er durch den Nieselregen.

Innen sieht das Rote Schloss aus wie nach einem Krieg: nackt und ausgeschlachtet. Die Holzböden sind verbogen, die Tapeten verblichen, die Wände zersprungen, die Räume einzig von verrussten Öfen bevölkert.

Der Baron bewohnt im Obergeschoss eine halbwegs intakte Oase inmitten der Schlosswüste, wenn auch die Heizung manchmal den Geist aufgibt. Ein Flur mit der ausufernden Bibliothek. Ein mit den übriggebliebenen Erbstücken ausstaffiertes Wohnzimmer. Ein Fernsehzimmer, das der Baron nur ungern zeigt, weil es nicht aufgeräumt ist, und ein Schlafzimmer, das er lieber nicht zeigt.

«Eigentlich lege ich schon Wert auf Ordnung», sagt Meinhard von Seckendorff.

Kommunistischer Untergrund

Ordnung in den Lebenslauf des Barons zu bringen, ist aber nicht ganz einfach. Er fährt einfach dort weiter, wo wir am Telefon stehen geblieben sind, und erzählt drauflos, von Tante Fea, die den kommunistischen Untergrund unterstützte, vom Vetter Burkhard, der einst das Erdgeschoss bewohnte und mit seinem ungarischen Schäferhund aus einem Bierglas trank, von seiner Ex Isabella und von der Hamburger Cousine Celia, in die er verliebt ist. «Celia ist poetisch und begütert», sagt Meinhard von Seckendorff, «das würde viele Probleme lösen.»

Herr Baron, können Sie ganz vorne beginnen?

Er beginnt mit der Mutter: «Mutter liebte den Wald mehr als mich.» Eine schwierige Beziehung. Der Vater, Panzergeneral Erich von Seckendorff, fiel neun Monate nach Meinhards Geburt an der Westfront. Die beiden waren auf sich gestellt.

Die Mutter, eine Berlinerin, harrte aus Pflichtgefühl gegenüber dem verstorbenen Gatten auf dem Provinzschloss aus und kümmerte sich um das Familiengut, das Schloss, die Äcker und eben den Wald. Den sensiblen Meinhard schickte sie ins Internat. Was ihm in schrecklicher Erinnerung geblieben ist. «Mutter wollte einen zähen Preussen aus mir machen», sagt er, «aber ich klappte zusammen.»

Später zogen die beiden nach München, wo der Baron das Gymnasium besuchte, ein Jus-Studium begann und die Leitmotive seiner Biografie entdeckte: Frauen und Alte Sprachen. In Latein schrieb er lauter Einsen, und noch heute trauert er seiner ersten Liebe, Lieselotte, nach. «Lieselotte wäre das ideale Heimchen am Herd gewesen», schwärmt Meinhard von Seckendorff.

Richter Alexander Hold

An die Uni Zürich gelangte der junge Adlige in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Der Psychoanalytiker Dr. Tiede, den seine Mutter als Vaterersatz angeheuert hatte, wollte ihn vor einer verfrühten Heirat mit Lieselotte bewahren. «Ausserdem musste er mich elegant loswerden, weil ihn Mutter nicht mehr bezahlte», vermutet Meinhard von Seckendorff. Tiede fuhr den jungen Baron mit Sack und Pack nach Zürich, wo er ihn im Café Odeon beim Philosophieprofessor Meier ablud, der ihn fortan unter die Fittiche nahm. Meinhard, 20-jährig, endlich der mütterlichen Einflusssphäre entzogen, war glücklich. Man schrieb das Jahr 1964.

Und was genau machten Sie in den folgenden 90 Semestern, Herr Baron?

Er schaut aus dem Fenster. «Das ist etwas kompliziert.»

Doch erst gibts Fernsehpause. Meinhard von Seckendorff will sich unbedingt die Auflösung des letzten Falls von «Richter Alexander Hold» ansehen. Wir verschieben ins Fernsehzimmer, wo sich Glasvitrinen mit Geschirr und Messingkannen türmen. Vorsichtig beugt sich der Baron zum altersschwachen Apparat herab und drückt den On-Knopf. «Einmal hat es Funken gesprüht», sagt er.

In «Alexander Hold» geht es um eine Frau mit so richtig fiesem Gesichtsausdruck und rotem Kleid, die ihren adligen Mann umlegen lassen hat, weil er zu wenig Taschengeld springen liess. Der Baron macht sich eifrig Notizen. «Mein Ersatz für die Vorlesungen», sagt er. Ein Zeuge ruft: «Wegen dieser Scheissfrau!» Der Baron lacht schallend. Er wird ernst: «Ich hatte Glück, dass mich meine Ex-Frau nicht umgebracht hat.» Alexander Hold verurteilt die Gattenmörderin zu lebenslänglich. «So eine schöne Frau, und so ein schrecklicher Charakter», seufzt Meinhard von Seckendorff.

Nur im Gästezimmer

Mit manipulativen Frauen hat er Erfahrung. Auf dem mit Post und Zeitungen übersäten Tisch neben dem Fernseher liegen Mahnungen von dubiosen Gewinnspielfirmen. «Die jungen Frauen am Telefon versprechen dann immer, dass man mit ihnen mal was trinken könne.» Grossen Kummer bereiten die Mahnungen dem Baron nicht. Er legt sie der Anwältin Möller, die am Dorfrand wohnt, in den Briefkasten, die regelt das dann.

Dass er Single ist, schlägt Meinhard von Seckendorff viel stärker aufs Gemüt. Deshalb gabs auch schon Rechnungen von Astro-TV. Im Dezember 2007 prophezeite ihm eine Hellseherin, dass er bald einen neue Liebe finden werde. Die Prognose war falsch. Für die Bezahlnummern hat sich der Baron inzwischen sperren lassen.

In Sachen Liebe ruhen seine Hoffnungen sowieso auf Celia. Celia ist eine Cousine zweiten Grades, kennt keine finanziellen Sorgen und schreibt in ihrem Hamburger Stadthaus Gedichte. Im Herbst 2009 kam sie mit der Münchner Cousine Astrid auf Besuch und räumte dem Baron die Bude auf.

Seither ist er verliebt, und zwar über beide Ohren. Die Haushälterin des Grafen Rainer meinte zwar, in seinem Alter könne man doch keinen Liebeskummer mehr haben. «Aber das stimmt nicht», sagt der Freiherr.

Als ihn Celia letzten Frühling nach Hamburg einlud, war der Baron im siebten Himmel. «Ich sah uns schon als Liebespaar», sagt er. Sie spazierten an der Alster und redeten über Dichter.

Doch Meinhard von Seckendorff musste im Gästezimmer übernachten. Celia wollte nur Freundschaft. Damit wurde das Ganze etwas kompliziert.

Schnipo mit Erich und Erwin

Es ist Abend geworden. Weil der Freiherr nicht kochen kann und der Herd sowieso kaputt ist, isst er jeden zweiten Abend in einer der Dorfkneipen.

Heute gibts Schnipo in der Schenke bei der lokalen Sporthalle. Am Stammtisch sitzen der lustige Erwin und der bullige Erich, der das Schnitzelbrot bequem in der Faust hält. Erwin und Erich reissen einen Witz über die prekäre finanzielle Lage von «Meini». Der Baron erwidert etwas, aber sein sanftes Organ geht unter im Stammtischdiskurs, der auf Märkisch geführt wird, einem Dialekt, der vom Lautmalerischen wie von der Verständlichkeit her zwischen Bayrisch und Tschechisch oszilliert. Unter den Einheimischen fühlt sich der Baron verloren. «Sie respektieren mich als Adligen, nicht als Intellektuellen», meint er, als wir in der klirrenden Kälte zum Schloss zurückkehren. «Sie verstehen nicht, wieso man ein ganzes Leben lang studieren kann.»

Dass sich der Studienaufenthalt in Zürich um ein paar Jahrzehnte in die Länge zog, hat mit dem Lernsystem des Barons zu tun, das von seinen Bekannten wahlweise als «uferlos» und «ziellos» bezeichnet wird.

Meinhard von Seckendorff startete mit Chinesisch und ging dann über zur Philosophie. 1977, nach zwölf Jahren Studium, schrieb er seine Lizenziatsarbeit über den griechischen Philosophen Plotin. Aber nur, weil ihm die Fremdenpolizei auf die Pelle rückte.

Grosse Hoffnungen

Nicht, dass es ihm an Begeisterung gefehlt hätte. «Anfangs setzten die Professoren grosse Hoffnungen in Meinhard, und wir betrachteten ihn als Konkurrenten für die akademische Laufbahn», sagt sein Studienfreund Rafael Ferber, heute Philosophieprofessor an der Universität Luzern.

Doch der Baron fand einfach keinen Fokus. Schnell weitete er sein Studiengebiet auf die gesamte Landschaft der Geisteswissenschaften aus. Er hörte Vorlesungen zu griechischer Philosophie, lateinischer Literatur, Indogermanistik, osteuropäischer Geschichte, alles miteinander und wild durcheinander. Zweimal nahm er eine Doktorarbeit in Angriff, beide verliefen im Sand.

Meinhard von Seckendorffs Studien­eifer entsprang nicht nur dem Interesse fürs Geistige. Sondern auch dem Desinteresse an allem anderen. «Alles Materielle war ihm einfach nur lästig», erinnert sich Rafael Ferber. Geld kümmerte ihn genauso wenig wie Arbeit.

Doch vor allem verschanzte sich der Baron in Zürich vor den Erwartungen, die auf ihm lasteten. «Meinhard stand unter gewaltigem Druck seiner Mutter, das Erbe anzutreten», sagt Barbara Straka, die in den 80er-Jahren mit dem Freiherrn liiert war und heute die Brandenburger Akademie der Künste präsidiert. «Seine Mutter gab ihr Leben dafür hin. Meinhard dagegen kam selten aufs Schloss und reiste so schnell wie möglich wieder nach Zürich ab. Die wertvollen Gemälde, die Möbel, alles, was mit Familie und Tradition zusammenhing, interessierte ihn einfach nicht.»

Als die Mutter starb, überliess der Baron die Verwaltung des Schlosses und der Güter einer Nürnberger Tante namens Jutta.

Tanzen für den Sektenführer

Er war mit anderem beschäftigt. Oft mit Frauen. Meinhard von Seckendorff flirtete im Vorlesungssaal, im Tram, in Stras­sencafés, am geliebten Zürichsee. Der Adelsstand gereichte ihm dabei nicht zum Nachteil. Es gibt ein Foto aus jungen Jahren. Ein schlanker Mann mit beigem Pullover und Intellektuellenbrille steht im englischen Garten vor dem Blauen Schloss. Keine schlechte Partie.

Doch der Freiherr zog nicht die einfachsten Frauengemüter an. Seine erste Ehefrau Isabella raste einmal im Tiefflug über das rote Schloss und warf einen Stein mit angeklebter Grusskarte ab. Die Ehe endete vor dem Bundesgericht in Lausanne. Eine andere Gefährtin schmiss Meinhard von Seckendorff samt Gepäck an einer Tankstelle aus dem Auto. Eine Dritte brannte mit einem sizilianischen Weinhändler durch.

Wenn die Frauen gegangen waren, schrieb der Baron Gedichte und tröstete sich mit Esoterik. Als ihn eine Freundin namens Madeleine verliess, reiste er mit einer indischen Sekte nach Finnland. Sie tanzten die ganze Nacht um das Bild des Sektenführers und sangen «Baba nam hevalam». Der Baron musste dazu trommeln. Später wollte ihn die Sekte zu einem spirituellen Minister ernennen, aber da war ihm die Lust vergangen.

1999, mit 55 Jahren, fand er sie dann, in einer Lateinvorlesung, die Frau seiner Träume. Patrizia, 40 Jahre, Sprachwissenschaftlerin mit jugendlichem Charme; «trotz ihrer Narben», wie Meinhard von Seckendorff einwirft. Sie heirateten noch im selben Jahr, schieden sich zwar nach einigen Monaten, kamen aber gleich wieder zusammen.

Der Baron glüht, wenn er von Patrizia spricht. «Sie kochte wunderbar mittelmeerisch», sagt er. Sie gingen tanzen, sie machte ihm die Wäsche, sie reisten nach Paris und Rom, sie redeten über Latein und Indogermanistik.

«Und wir hatten grossartigen Sex», betont Meinhard von Seckendorff.

Doch Patrizia rauchte. Sie rauchte in den Hotelzimmern, sie rauchte, wenn sie kochte, sie rauchte, wenn sie des Nachts Übersetzungen machte, um ihr Studium zu finanzieren. So kam sie auf 60 Zigaretten am Tag. Heute macht sich der Baron Vorwürfe. «Ich hätte es ihr verbieten müssen, aber ich war ja nicht mehr ihr Ehemann.» 2003, nach vierjähriger Beziehung, starb Patrizia an Lungenkrebs.

«Ich dachte, das sei die Beziehung fürs Leben», sagt Meinhard von Seckendorff. «Ich dachte auch, Patrizia könnte meine Alterspflegerin werden.»

Der Baron ist eine ehrliche Haut.

Das Schlimmste aber sei gewesen, dass er den Schmerz mit niemandem teilen konnte. Wenigstens der bekannte Zürcher Militärstrategie-Professor Albert Stahel hörte sich die traurige Geschichte in einer Vorlesungspause an.

Der letzte Privatgelehrte

Die Jahre nach Patrizias Tod waren keine Jubeljahre für den Baron. Es klappte nicht mehr mit den Frauen, eine Nacht mit einer ostdeutschen Germanistin und die zweideutige Äusserung einer Mensaangestellten bezüglich Nachtisch mal ausgenommen.

An der Uni war er zum Exoten geworden. Die Professoren von einst waren pensioniert oder tot, die Studienfreunde längst verschwunden oder inzwischen selbst Professoren.

Doch Meinhard von Seckendorff zog sein Programm durch. Täglich sechs bis acht Stunden Vorlesungen über dieses und jenes. In den Kaffeeecken und Dozentenzimmern munkelte man etwas von einem Schloss und einem Vermögen, doch genauer wusste kaum einer über den Baron Bescheid. Er war «der freundliche ältere Herr, der an unerwarteten Stellen laut lachte und mit Getöse Notizblöcke vollschrieb», wie sich Professoren erinnern.

Es schwingt Wehmut mit, wenn sie an Meinhard von Seckendorff zurückdenken. Für sie war er das Fleisch gewordene Gegenstück zur ungeliebten Bologna-Reform; jemand, der nur um des Lernens willens studierte. Ein Exemplar der aussterbenden Gattung der Privatgelehrten. Meinhard von Seckendorff spricht fliessend Latein und Griechisch, er kennt Sätze auf Indisch und Indogermanisch und zitiert am Laufmeter Philosophen, Literaten und Propheten.

Das jahrelange Mäandern durch das All-you-can-eat-Buffet des universitären Lehrangebots hat noch andere Spuren hinterlassen: Ein eigensinniges Wissenssystem, das mit modernem, zielgerichtetem Forschen kaum kompatibel ist. «Wenn Meinhard redet, ergeben sich endlose Assoziativketten, die letztendlich um sich selbst kreisen», sagt Rafael Ferber, der Studienfreund und Philosophieprofessor.

Für den Baron hängt alles mit allem zusammen; Zahlen, Daten, Gedanken und Sternzeichen. Er hüpft von einem zum anderen im Takt eines Maschinengewehrs. Manchmal ist einem, als höre er die Bücher einer monumentalen Bibliothek wild durcheinander wispern.

Diese monumentale Bibliothek hat Meinhard von Seckendorff nicht nur im Kopf. Sondern auch im Keller. Dort sind die Mitschriften aus 45 Studienjahren archiviert. Tausende vollgeschriebene A5-Blöcke mit blauem Rand, die sich kubikmeterweise zur Decke türmen. Eine monströse und chaotische Enzyklopädie universitären Wissens.

25 Jahre im Hotel

Auf einem Holzgestell neben den Manuskriptbergen reihen sich weitere Zeugen der langen Studienepoche. Ein Dutzend kaputter Rollkoffer, mit denen der Baron zwischen Obernzenn und Zürich hin- und herpendelte.

Meist standen die Koffer aber in den Hotelzimmern, die nach dem Tod der Mutter 1985 Meinhard von Seckendorffs Zuhause wurden. Erst logierte er im «Rothus» im Zürcher Niederdorf, wo es Etagenduschen und einmal auch eine Leiche gab. Später residierte er im Drei­sternehotel «Walhalla» nahe dem Zürcher Hauptbahnhof, wo ihm der jugoslawische Rezeptionist manchmal eine Limonade spendierte. 110 Franken pro Nacht kostete das Zimmer zuletzt.

Wieso lebten Sie 25 Jahre lang in Hotels, Herr Baron?

Der Baron ringt um Worte. «Mir fehlte einfach die Kraft, eine Wohnung zu suchen», sagt er.

Nicht, dass er auf grossem Fuss gelebt hätte. Der Baron führte ein bescheidenes Dasein. Abends ass er eine Bratwurst oder einen Toast Hawaii. Kino oder Konzerte leistete er sich nicht. Am Samstagabend ging er manchmal in ein Café. «Aber die Paare zogen mich sowieso herunter», sagt er. Meist sah Meinhard von Seckendorff in seinem Hotelzimmer fern.

Das Geld hätte ja reichen können bis ans Lebensende, meint er. Wenn Tante Jutta nicht gewesen wäre. 2001 kam ein Brief vom Gerichtsvollzieher. Wegen nicht bezahlter Rechnungen drohte eine Pfändung. Der Freiherr verstand nicht. Und Tante Jutta, die der Baron mit der Verwaltung des Erbes betraut hatte, war plötzlich verschwunden.

Schlossverkauf

Nach und nach stellte sich heraus: Jutta hatte keine Buchführung gemacht, dafür aber Schulden in der Höhe von 400’000 Euro. «Und sie liess das Tafelsilber mitgehen», vermutet der Baron.

Meinhard von Seckendorff musste das Erbe verscherbeln.

Erst die Waffen, die chinesische Ritterrüstung im Treppenhaus und die Bilderserie eines preussischen Regiments. «Das war mir noch egal, ich bin eh Pazifist», meint der Baron.

Dann die 80 Hektaren Wald, die seine Mutter so geliebt hatte. «Das war unangenehm, aber ich wollte ja nie auf die Jagd gehen oder so.» Immerhin brachte das 190’000 D-Mark.

Dann kam ein Teil des Inventars an die Reihe, antike Sekretäre, Tische, Bilder, Schmuck. «Das tat dann weh.»

2004 verkaufte Meinhard von Seckendorff den Viertel des Roten Schlosses, den er geerbt hatte, für 150’000 Euro an die um Denkmalschutz bemühte Messerschmitt-Stiftung. Man liess ihm lebenslanges Wohnrecht in drei Zimmern, Bad und Küche.

Die Schulden waren längst abbezahlt. Doch der Baron dachte nicht daran, das Studium und das Hotelzimmer aufzugeben. Wenn ihm das Geld ausging, reiste er aufs Schloss und verkaufte ein weiteres Möbelstück.

Meinhard von Seckendorff sitzt zerknirscht im Wohnzimmer und schaut sich das verbliebene Erbe an. «Ich dachte einfach, das würde sich schon alles wieder einrenken.» Er habe gehofft, irgendwie doch noch eine Doktorarbeit hinzukriegen. Dann erzählt er von einem Freund, der ihm einen Posten als Lateinlehrer in Aussicht stellte, sollte er einst eine Privatschule eröffnen.

Waffenruhe mit Celia

Im Januar 2009 gestand sich der Baron ein, dass er pleite war. Nach 45 Jahren war seine Studienzeit zu Ende. Er verabschiedete sich im Hotel Walhalla vom jugoslawischen Rezeptionisten, der ihm manchmal Limonade offerierte, und reiste zurück auf das Rote Schloss. Enttäuscht, aber nicht ganz hoffnungslos. «Ich dachte, Celia würde mich in ihr Hamburger Stadthaus holen», sagt Meinhard von Seckendorff.

Aber der Besuch im Norden endete anders als erhofft. Dass er die Nacht nicht in Celias Schlafzimmer verbringen konnte, ärgerte den Baron. Am Morgen sagte er etwas von «Hamburger Sexualunterdrückung». Celia antwortete etwas von «direkt in St. Pauli abliefern».

Der Baron reiste zurück und schrieb Liebesbriefe. Celia rief an und blieb hart. Der Baron knallte den Hörer auf die Gabel. Er schrieb ihr ein Gedicht, das mit «An die Eiswoge Hamburgs» begann. Celia rief an und forderte ihn auf, sie mit Namen anzuschreiben.

Er schickte ihr eine Postkarte mit einer üppigen Frau darauf und wünschte «schönes Altern». Celia rief wieder an und meinte, so alt sei sie nun auch wieder nicht.

Der Baron schickte einen freundlicheren Brief, «unter Verzicht auf Erotik», seither herrscht Waffenruhe. Doch die Fronten wollen sich nicht aufweichen. Meinhard von Seckendorff hofft auf Ostern. Dann will er Celia wieder einladen. Der Herbert vom Stammtisch gab ihm den Rat, einfach über sie herzufallen.

Celia übrigens bittet um Verständnis, dass sie sich zu der Sache nicht äussere. «Es ist doch eine recht fragile Familienangelegenheit», sagt sie am Telefon.

Premium-Lachs

Zeit für ein wenig Zitronen-Bitterschokolade, die Leibspeise des Freiherrn. In diesen schweren Zeiten hat er immer einige Tafeln im Kühlschrank gelagert.

Nach der Stärkung schleppt Meinhard von Seckendorff von irgendwoher eine elektronische Schreibmaschine heran. Er schreibt an einem Buch, einer Einführung in Philosophie, steckt aber auf Seite zwei fest.

«Als Intellektueller brauche ich städtisches Milieu», meint der Baron.

Er tröstet sich mit Lektüre. «Eine Stunde Heidegger oder Plotin lesen kann die Stimmung heben.» Abends führt er langfädige Telefonate mit Leo, seinem 90-jährigen Kumpan aus Zürcher Tagen. Manchmal geraten sie sich in die Haare, und der Baron knallt den Hörer auf die Gabel.

Freitag ist der Lichtblick seiner Woche. Dann fährt der Freiherr ins nahe Ansbach, flirtet im «Café Bohne», verputzt in «Sahins Dönerstand» einen Kebap und macht Einkäufe.

Heute packt er im weihnachtlich beleuchteten «Blümchen»-Supermarkt eingelegte Waldbeeren, Multivitaminsaft und eine Packung Premium-Lachs in den Einkaufswagen.

Achten Sie auf Preise, Herr Baron?

«Nein», sagt er, «Da bin ich blind.» Sein Monatsbudget kennt er genauso wenig wie den aktuellen Kontostand. Nur die Kosten der Wäsche kann er beziffern. Etwas über 100 Euro im Monat verlangt das Reinigungsinstitut in Ansbach. «Tante Jutta hat auch die Waschmaschine mitgenommen», erklärt Meinhard von Seckendorff.

Neue Waschmaschine

Vielleicht wird Frau Scherer eine Waschmaschine besorgen. Frau Scherer ist Sozialarbeiterin. Sie soll den Freiherrn fit machen für die Grundsicherung, welche er beantragt hat. Mit 350 Euro im Monat wird er den Gürtel noch enger schnallen müssen. «Vielleicht reparieren sie den Herd und schicken mich in einen Kochkurs», überlegt er.

Erst wird es nochmal richtig schmerzhaft. Grundsicherung kriegt der Baron nur, wenn sein Hab und Gut 2500 Euro nicht übersteigt. Noch der letzte Rest des Familienerbes kommt unter den Hammer. Der Wohnzimmertisch, der Schachtisch, Bilderrahmen, das alte Spielzeug, alles.

Die Anwältin Möller hat gar den Verkauf der Bücher vorgeschlagen. Jetzt ist sie beim Baron untendurch. «Als Intellektueller lebe ich lieber in Kisten, als die Bibliothek anzurühren», empört er sich.

Als wir am Abend vor meiner Abreise aus angestaubten Gläsern Wein trinken, macht sich Meinhard von Seckendorff grausige Vorwürfe. Er erzählt von verpassten Gelegenheiten für Doktorarbeiten. Und vom einzigen Zahltag, den er je eingebracht hat, 1977, als er eine Woche lang als Hilfsskilehrer arbeitete. Vom Lohn kaufte er sich einen neuen Rucksack.

Die Trägheit, meint der Baron, habe er seinem Sternzeichen Krebs zu verdanken. «Wäre ich doch in München geblieben», sagt er schliesslich. «Ich hätte Lieselotte geheiratet und wäre Lateinlehrer geworden.»

Familiensache

Lieselotte ist noch der kleinste Teil der Vergangenheit, die Meinhard von Seckendorff dieser Tage beschäftigt.

Ein Gespenst namens Familie sucht ihn heim.

Die Mutter. «Mutter hätte härter mit mir sein müssen», sagt der Baron, «sie hätte mich zwingen müssen.»

Der Vater, den er nie gekannt hat. «Vater wäre todunglücklich, müsste er das hier miterleben», klagt er. «Er hätte noch die niedrigste Arbeit angenommen, um das abzuwenden.»

Die Schuldgefühle rauben dem Freiherrn den Schlaf. Alle zwei Stunden wacht er auf. Und wenn er schläft, träumt er. «Manchmal laufe ich durch Zürich, manchmal sehe ich mein Kinderzimmer vor mir.»

Und irgendwie ist auch das Interesse an der Tradition zurückgekehrt.

«Wir sind kein neumodischer Adel. Wir sind ein altes Geschlecht», betont Meinhard von Seckendorff, letzter Abkömmling der Linie Seckendorff-Gudent. «Ich will diese 800 Jahre nicht einfach so beenden.»

Der Baron wünscht sich einen Sohn.

«Aber andererseits», wendet er ein, «was hätte er denn noch von der Tradi­tion? Nichts. Es wird ja alles weg sein.»

Als ich am nächsten Morgen abreise, dekoriert der erste Schnee das Anwesen der Seckendorffs. Der Baron, tief im Wintermantel vergraben, bedankt sich aufs Liebenswürdigste für den Besuch. Dann huscht er schnell wieder über die Schlossbrücke, um die Reparateure aus Nürnberg anzufordern. Die Heizung ist mal wieder ausgefallen. ◊

Mit diesem Text verlässt Joel Bedetti die ZS und steigt ins frisch gegründete Reporterkollektiv ALSO ein.

www.reporterkollektiv.ch