Editorial #5/10

Editorial

22. Oktober 2010

«Vor dem Gesetz sind alle gleich.» Dieser Satz stimmt längst nicht mehr. So möchte Nicolas Sarkozy in Frankreich zwei verschiedene Bürgerklassen schaffen. In Russland fahren Reiche schneller, wenn sie den Polizisten das nötige Kleingeld abdrücken, und auch die SVP-Ausschaffungsinitiative schafft eine Rechtsungleichheit. Der Aussage, dass wir vor Gott alle gleich seien, werden heutzutage auch immer weniger Menschen beistimmen – doch da gibt es noch die «Halbgötter in Weiss». Vor ihnen sind alle gleich. Wenn ein Milliardär sein Geld am Fiskus vorbeischleusen will, schafft er es in die Schweiz oder auf die Cayman-Inseln. Doch wenn ihn Prostata-Probleme plagen, gibt es auch für ihn keinen Ausweg – er muss die Hosen runterlassen. In der Arztpraxis gibt es keine Geheimnisse.

Medizinerinnen und Mediziner greifen in die intimsten Bereiche der Menschen ein und sind sich bewusst, dass sie mit anderen deren best-behütete Geheimnisse teilen. Deshalb gibt es den Hippokratischen Eid. Die Ärzte geloben also, die Schweigepflicht einzuhalten oder ihren Patientinnen und Patienten nicht zu schaden.

Die Medizin hat selbstverständlich auch in der Geschichte der Universitäten eine lange Tradition. Gemäss dem Gründungsmythos der Schule von Salerno soll die Medizin auch dazu geführt haben, dass die erste Universität überhaupt entstand. Wir haben der Fakultät, die einst Gemüter erhitzte und Städten Weltruhm verlieh, unsere neuste Ausgabe gewidmet. Wir haben uns am Seziertisch versucht, die Medizin aus modernen und historischen Blickwinkeln betrachtet und gefragt, wer denn die Studierenden sind, die hier zu Ärztinnen und Ärzten ausgebildet werden, die alle Geheimnisse kennen und vor denen wirklich alle Menschen gleich sind.

Corsin Zander, Redaktionsleiter