Janine (9. Semester) und Anja (11. Semester) im Gespräch. Doris Hysek

Wer will das heute noch?

Anja und Janine studieren Medizin an der Uni Zürich. Sie wollen Hausärztinnen werden. Aus Überzeugung, wie sie selbst sagen.

20. Oktober 2010

Anja und Janine, Hausärztinnen und Hausärzte haben nicht den besten Ruf. Es heisst, sie verdienen wenig und arbeiten vor allem in ländlichen Randgebieten. Wer will da noch Hausarzt werden?

Anja: Das Schöne am Hausärztin sein ist für mich die Begleitung des Patienten über längere Zeit, die Abwechslung im Alltag, unterschiedliche Patienten, verschiedene Alter, der grosse Diagnoseumfang. Ich kann alles anwenden, was ich im Studium gelernt habe.

Janine: Ich habe in meinem sechswöchigen Praktikum bei einem Hausarzt teilweise sehr grosse Wertschätzung der Patienten erlebt, weil er in jedem Fall hilft und die Betreuung persönlicher ist. Auch mit weniger Hilfsmitteln kann der Hausarzt viel machen. In der eigenen Praxis bin ich zudem mein eigener Chef.

Es heisst, das enorme medizinische Fachwissen verdopple sich alle fünf Jahre. Da brauchts doch Spezialisten und keine Generalisten?

Anja: Entscheidend ist, dass der Hausarzt spürt, wann es einen Spezialisten braucht. Die Entscheidung darüber, was man selber machen kann und was nicht, ist eine Gratwanderung. Es ist aber tatsächlich so, dass der Hausarzt auf allen Gebieten auf dem Laufenden bleiben sollte. Das ist wahrscheinlich das Einzige, was mir an diesem Beruf Angst macht.

Janine: Das Wichtigste ist, dass ich selber erkenne, wenn etwas meine Kompetenz überschreitet. Das fordert mich heraus, und das ist in Ordnung so. Ich möchte aber auch nicht jeden zweiten Patienten weitervermitteln müssen, das wäre für mich nicht befriedigend.

Was Hausärztinnen und Hausärzte heute leisten, könnten doch ganz gut Pflegefachleute übernehmen. Wozu braucht es euch da noch?

Anja: Pflegefachleute arbeiten nach meiner Erfahrung häufig mit Schemen und haben Symptome und Behandlungsmöglichkeiten auswendig gelernt. Es braucht hier aber mindestens sporadisch eine Rücksprache mit dem Hausarzt. Pflegefachleute kennen die Zusammenhänge im Gesamtorganismus nicht. Der Hausarzt fungiert quasi als eine übergeordnete Instanz, die prüft und justiert – der Hausarzt hat die Fäden in der Hand.

Janine: Hausärzte bleiben unabdingbar, weil sie über alle Fachgebiete Bescheid wissen müssen.

Hausärzte wissen in vielen Gebieten Bescheid, aber bin ich bei ihnen auch am besten aufgehoben? Wenn ich eine Sportverletzung habe, gehe ich zum Sportarzt, und wenn ich Probleme mit den Ohren habe, zum Ohrenarzt. Warum soll ich überhaupt zum Hausarzt gehen? Der schickt mich dann doch nur zu Spezialisten.

Janine: Einen grossen Teil der Fälle kann man ohne Spezialisten lösen, es braucht ihn eigentlich nur selten.

Anja: Ausserdem ist häufig medizinisches Fachwissen notwendig, um den richtigen Spezialisten zu finden. Da gibt es ganz typische Fehleinschätzungen. Es kostet im Übrigen auch Geld, wenn man zunächst mehrere Spezialisten konsultiert, bevor man den richtigen gefunden hat.

Janine: Viele Leute verlassen sich auf das, was die Nachbarin erzählt oder was sie in einem Heft gelesen haben. Diese können das aber nicht professionell einschätzen.

Der Fachbereich des Hausarztes wird kaum an der Universität gelehrt, man setzt auf Spezialisierungen. Können so gute Hausärzte ausgebildet werden?

Janine: Dieses Problem hat die Universität erkannt. Beispielsweise ist ein gutes Tutorats-System aufgezogen worden. Insgesamt ist aber vielleicht einmal im Semester jemand gekommen, der etwas über Hausärzte erzählt hat. Das ist zu wenig und schafft auch kaum Anreize, Hausärztin oder Hausarzt zu werden.

Anja: Es laufen immer noch zuwenige Bestrebungen, auch von der Vorlesungsgewichtung her. Inwzischen hat es in Zürich immerhin einen Lehrstuhl. Insgesamt ist unser Studium zu theoretisch und zu fachspezifisch, wir lernen nicht anhand von Symptomen und können auch keine Diagnosen stellen. Die Praxis ist eher auf die Zeit nach dem Studium verlagert.

Einem Hausarzt bleibt häufig aus Zeitmangel nur eine Viertelstunde, um darüber zu entscheiden, wie es mit dem Patienten weitergehen soll, schreibt ein angehender Arzt anlässlich eines Hausärztekongresses in Arosa. Klingt nach erschöpfender Massenabfertigung, die auch mal schief gehen kann.

Janine: Wenn ein Arzt dem Patienten einige Minuten zuhört, kann er schon um die 80 Prozent der Diagnosen stellen. Man lernt auch, schnell zu entscheiden, welche Untersuchung jetzt noch notwendig ist, um eine Diagnose zu bestätigen oder einzugrenzen. Auch wenn es wenig scheint – in 15 Minuten kann man viel machen. Aber es ist klar, dass das nicht bei allen Patienten geht.

Anja: Das mit dem Zeitdruck zieht sich durch die ganze Medizin. Am Schluss meines Wahlstudienjahres war ich dreienhalb Monate in Ghana. Dort hatte der Arzt teilweise drei Minuten Zeit pro Konsultation. Das ist zwar nicht vergleichbar und auch gefährlich – geht aber. Es passieren so aber sicher viel mehr Fehler.

Hochrechnungen zufolge sollen im Jahr 2021 nur noch 25 Prozent der Hausärzte tätig sein. Wie seht ihr eure Zukunft?

Anja: Das ist tatsächlich ein Problem. In ganz Europa zeichnet sich eine Rochade der Hausärzte ab. In der Schweiz bleiben die Praxen leer, es kommen Deutsche und die fehlen dann wiederum in Deutschland. Das zieht sich durch mehrere europäische Länder. Die Schweiz macht es sich sehr einfach.

Janine: In den letzten Jahren sind die Bestrebungen in die falsche Richtung gegangen. Es wird immer unattraktiver, Hausarzt zu werden. Aber die Situation ist grauenhaft, ich weiss nicht, wie das funktionieren soll. Werden es noch weniger als jetzt, sind die verbleibenden Hausärzte eindeutig überlastet.

Anja: Es gibt aber auch gute Bestrebungen, mehr auszubilden und den Job attraktiver zu machen. Sicher kommt das jetzt viel zu spät, und das Loch, das sich jetzt aufmacht, wird man auf jeden Fall spüren und es mit ausländischen Ärzten füllen müssen. Die Situation bereitet mir Sorgen. Sicher schreckt es Studenten ab, die sich wenigstens ansatzweise vorstellen könnten, den Job zu machen. ◊