Die Studierenden arbeiten vorsichtig und respektvoll. Ron Kappeler

Hautlappen weggeschnitten

Skalpell und Pinzette statt Block und Bleistift: Unser Reporter durfte an einem Sezierkurs teilnehmen. Wohl war es ihm dabei nicht.

20. Oktober 2010

Weisser Kittel. Blaue Handschuhe. Skalpell. Schnitt. Mit einem scharfen Messer durchtrenne ich dichtes Fettgewebe mit vielen kleinen Schnitten. Das Messer geht wie durch Butter. Den grossen Hautlappen ziehe ich immer weiter zu mir heran. Ich konzentriere mich darauf, möglichst nah an der Innenseite der Haut zu schneiden. Ich überschreite damit eine bis dato unüberwindbare Grenze: der Eingriff in die Intimität eines menschlichen Körpers.

Ich befinde mich im Raum Y42-G-41, im Erdgeschoss der Uni Irchel. Es ist hell, die Wände sind weiss und der Boden grau. Darauf stehen silberne Tische aus Chromstahl. Einzig die grossen Bäume mit ihren Blättern vor dem Fenster sorgen für Farbe. Die Luft ist trocken, die Konservierungsflüssigkeit, mit der die Leichen durchtränkt sind, erfüllt den Raum mit einem unangenehmen Geruch. Da und dort tropft sie auf den Boden. Doch ohne das Formalin würden die Leichen, die mehrere Monate alt sind, ganz anders aussehen und riechen.

Vorsichtig und respektvoll

Die sterile Atmosphäre schafft eine professionelle Stimmung. Zum Glück. Dadurch ist der Anblick der Leichen nicht bedrückend. Vielleicht liegt es auch da­ran, dass der Mann, der da tot, aber gut erhalten vor mir liegt, eher unmenschlich aussieht: Der Grossteil seiner gelblichen Haut liegt bereits zur Seite geklappt auf dem Chromstahltisch. An seinen steifen Händen und dem rechten Ohr ist je ein roter Zettel mit einer dreistelligen Zahl befestigt. Es ist der einzige sichtbare Hinweis auf die Identität des Spenders. Seine Augen sind geschlossen. Die Körperhaare etwa einen halben Zentimeter lang. Sie wurden zwar abrasiert, doch weil das Gewebe nach dem Tod ein wenig schrumpft, sind die Haare wieder sichtbar geworden.

Wir arbeiten konzentriert, sorgfältig und mit grossem Respekt. Dicht gedrängt stehe ich mit sieben weiteren Studierenden um den Körper: Je zwei arbeiten am Kopf, dem Hals, den Achseln und bei der Nieren- und Leistengegend. «Wie Geier bücken sich die Studierenden über die Leichen», flüstert mir der Fotograf zu, der den ganzen Raum mit insgesamt 16 Leichen im Blick hat.

Doch das Bild passt nicht wirklich. Die Studierenden, alle in langem weis­sem Kittel mit meist weissen Handschuhen, sehen dafür zu rein aus. Auch ihre Arbeitsweise, äusserst vorsichtig und respektvoll, hat nichts mit hungrigen Geiern gemein. Meine männliche Leiche sieht jedenfalls zufrieden aus. Den Mund leicht geöffnet, liegt sie da und strahlt eine innere Ruhe aus.

Spende aus Dankbarkeit

Er wusste zu Lebzeiten, was ihm bevorsteht. Es war seine eigene Entscheidung. Wie alle Spenderinnen und Spender hat er eine letztwillige Verfügung über seinen Körper unterschrieben und sich freiwillig in den Dienst der Wissenschaft gestellt. «Die Motive dafür sind sehr unterschiedlich», erzählt Oliver Ullrich, Direktor des Anatomischen Instituts der Uni Zürich. Einige täten es aus Dankbarkeit, weil die Medizin ihnen geholfen habe, andere seien selbst aus einem akademischen Umfeld und sich deshalb der Bedeutung einer solchen Spende bewusst.

Gestorben sind sie alle eines natürlichen Todes, denn der Körper sollte den Studierenden möglichst unversehrt zur Verfügung stehen. «Es kann schon sein, dass einmal eine Gelenkprothese auftaucht», sagt Ullrich. Das sei aber nicht weiter schlimm. Bloss wenn eine Spenderin oder ein Spender eine grosse, komplizierte Operation hinter sich habe oder beispielsweise an einem Verkehrsunfall gestorben sei, komme sie oder er für den Präparierkurs nicht in Frage.

Die Studierenden im dritten Semester sollen lernen, wie der menschliche Körper wirklich aussieht. Denn bisher kennen sie ihn bloss aus Abbildungen in Büchern. Nun sehen sie ihn dreidimensional vor sich. Im Gegensatz zum Lehrbuch erkennen sie hier auch, dass ein Körper sehr individuell ist. Dass beispielsweise einzelne Muskeln nur noch bei acht Prozent der Bevölkerung überhaupt vorhanden sind oder einzelne Sehnen und Nerven nicht immer am gleichen Ort sein müssen. Solche Abnormalitäten kann ich keine erkennen. Ich staune aber darüber, wie gut erhalten die Leiche noch ist. Nach dem Tod ersetzen Präparatoren der Uni das Blut der Leichen durch Formalin, danach werden sie einzeln maximal ein Jahr lang in einem Tank voller Formalin gelagert, bis sie gebraucht werden. Der tote Mann vor mir wurde zu Beginn des Herbstsemesters in Formalin-durchtränkte Tücher gewickelt und in den Präpariersaal gefahren. Dort hat er auf die Studierenden gewartet.

«Zerschneidet nichts Falsches»

Das Skalpell legen wir alle zum ersten Mal an. Aber die Medizinstudierenden wirken gelassener als ich. Sie haben die Leiche schon einmal gesehen. Und tatsächlich: Als sie im Tutorat das erste Mal die Leichen abdeckten, waren nicht alle so ruhig: «Einer hat sich über den Mittag zuvor mit Bier Mut angetrunken», erzählt mir einer der Studenten. Und eine Kommilitonin musste den Raum verlassen und sei im Gang zusammengebrochen.

Das passiert jedes Jahr mindestens einem der insgesamt 250 Studierenden. Deshalb steht eine kleine Liege bereit, auf die sich Studierende legen können, wenn ihnen unwohl ist. Doch heute bleibt sie unbenutzt. Ein paar wenige Studierende stehen zwar verkrampft vor den leblosen Körpern, aber es kommen alle auf ihre Art und Weise zurecht. «Ich versuche, mich langsam an meine Aufgabe heranzutasten», verrät mir ein Student, der sich im Hintergrund hält. Einige geben sich übertrieben locker und lustig, andere fokussieren enorm auf ihre Aufgabe. «Das Abdecken hat mir Mühe bereitet, doch nun ists kein Problem. Ich schneide ja bloss auf einem Quadratzentimeter», erklärt ein Student, der gerade den Hinterkopf einer Frau freilegt.

Während dem Sezieren bin ich überraschend locker. Wir sprechen über die ZS und es fällt sogar der eine oder andere Witz. «Zerschneidet nichts, was ihr nicht solltet. Sonst müsst ihr für die Gruppe, die nach euch an die Leiche kommt, einen Kuchen backen», warnt Anthony, der Tutor an meinem Tisch.

«Scheisse!», ruft eine plötzlich am Tisch nebenan. «Ich habe ihr ein Loch in den Hals geschnitten, Scheisse!»

Edel und würdevoll

Für die heutigen Medizinstudierenden ist die Möglichkeit, das Sezieren an einem menschlichen Körper testen zu können, ein Privileg. Das gab es lange nicht. Vor 250 Jahren fanden in den USA die ersten formellen Anatomiekurse statt. Die Mediziner von damals verwendeten dafür exekutierte Straftäter. Im Bundesstaat Pennsylvania galt das als Verschärfung der Todesstrafe. Weil die Universitäten aber ihren Bedarf an Leichen damit noch nicht deckten, kauften sie die Körper oft von Grabräubern. Als Friedhöfe immer öfter geplündert wurden, kam es in der Bevölkerung gar zu heftigen Unruhen.

Erst seit 1968 gibt es in den USA die freiwillige Körperspende, mit der man seinen Körper nach dem Tod der Wissenschaft zur Verfügung stellen kann. Was früher eine entweihende Tat war, gilt heute als edel. Die Universität Zürich geht mit ihren Spendern auch entsprechend um. Was mit der Leiche nach dem Präparierkurs geschieht, entscheiden die Spenderinnen und Spender selber. «Ein Drittel der Urnen geben wir nach der Kremation an die Angehörigen zurück. Die anderen bestatten wir anlässlich einer Feier im Ehrengrab auf dem Friedhof Nordheim», erzählt Oliver Ullrich vom Anatomischen Institut.

Voll bei der Sache

Vor der letzten, endgültigen Ruhe werden die Körper aber noch ein Jahr intensiv gebraucht. Im Unterschied zu den üblichen Vorlesungen sind alle Studierenden von Beginn weg voll bei der Sache. Die drei Stunden zum Sezieren nutzen die angehenden Medizinerinnen und Mediziner bis zur letzten Sekunde aus.

Um zwanzig vor vier unterbricht Anthony die Studierenden an meinem Tisch, worauf diese widerwillig ihre Messer und Pinzetten beiseite legen. Er zeigt uns nun die Struktur jeder bearbeiteten Region am Körper. Ich höre nur mit halben Ohr zu, während Anthony über die Regio colli media, Axilla, Regio frontalis und Regio subinguinalis erzählt. Eine Studentin umfasst den linken Arm der Leiche und drückt ihn vorsichtig. So langsam traut sich die Gruppe, die Leiche auch mit den Händen anzufassen. Da horche ich plötzlich auf: «Diese Fasern der äusseren Bauchmuskulatur hier verlaufen wie Männer: oberflächlich und schwanzgesteuert.» Mit diesem Merksatz schliesst Anthony seine Erklärungen für heute.

Nun sprühen die Studierenden den Körper mit Formalin ein und decken ihn wieder behutsam zu. Währenddessen habe ich bereits das Skalpell gewaschen und in die Holzschachtel des Sezierbestecks verräumt. Mittlerweile ist der Raum mit dem Geruch von Putzmittel erfüllt. Es herrscht Aufbruchstimmung und einige Studierende atmen kaum hörbar auf, während sie den Präpariersaal aufräumen.

Es herrscht Ordnung: Die gebrauchten Handschuhe und das Papier gehören in einen blauen Behälter. Im danebenstehenden grauen Eimer befinden sich Haut- und Fettreste. «Wer hat hier ein Papier hineingeschmissen?», fragt eine Tutorin von einem anderen Tisch laut und nimmt das Papier heraus.

Mulmiges Gefühl

Beim Verlassen des Raumes blicke ich noch einmal auf den Mann zurück, dem ich soeben einen Teil seiner Haut weggeschnitten habe.

Es bleibt der Geruch des Formalins in der Nase und ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Ich empfinde eine grosse Achtung vor den 16 Frauen und Männern, die zugedeckt hinter mir im Raum liegen. Ob ich mich selbst auch zu einer solchen Spende zur Verfügung stellen würde? Wahrscheinlich schon, aber so ganz wohl ist es mir nicht bei dem Gedanken, dass mich acht Studierende ein Jahr lang in Einzelteile zerlegen.

Wie ich in Gedanken versunken durch die Gänge der Uni Irchel gehe, bleibe ich plötzlich stehen und zögere: Im Lichthof sind Bahren aufgestellt, auf ihnen liegen Studierende. Doch glücklicherweise bewegen sie sich – es ist mal wieder Blutspendetag an der Uni.

Ärzte sagen, ihre erste Sezierstunde würden sie ihr Leben lang nie vergessen. Ich wohl auch nicht.