Der Palazzo steht gleich neben der Tramhaltestelle Kantonsschule. Patrice Siegrist

Vom Leichenhaus zum Affenkäfig

Wo Leichen auf Marmor lagen und gläserne Büros romanische Offenheit ausstrahlen: das Romanische Seminar im Wandel der Zeit.

23. September 2010

In der Zürichbergstrasse steht seit fast 100 Jahren ein stattlicher Italiener und wartet auf Besuch. Seit er zum ersten Mal das Hauptgebäude und die Aula der Uni Zürich gesehen hat, ist er nie von deren Seite gewichen. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.

Mutter mit italienischem Flair

Das Licht der Welt erblickte er bereits im 19. Jahrhundert, genauer gesagt dauerte seine Geburt ab 1865 zwei Jahre. Aber der Toskaner entstand auch nicht wie die meisten anderen Babies. Er war zuerst nur eine Skizze auf einem Stück Papier. Sein Erschaffer ist Gottfried Semper, einer der berühmtesten Zürcher Architekten. Der Italiener von der Zürichbergstrasse ist denn auch kein gewöhnlicher Mann: Er ist ein edler Palazzo im florentinischen Renaissance-Stil mitten in der Limmatstadt.

Grund für die Erbauung des herrschaftlichen Gebäudes war in erster Linie Anna Katharina Fierz. Sie, die sich mit Vorliebe Nina nannte, hatte ein Flair für Italien und galt bei ihren Zeitgenossen als Original. Als unabhängige, wissensdurstige Frau bereiste sie alleine viele Länder, aber la bella italia war der weltoffenen Dame am liebsten. So musste auch zu Hause ein florentinischer Palast her. Ihr Gatte erfüllte ihr den Wunsch gerne. Denn Johann Heinrich Fierz war erfolgreicher Grosskaufmann im Textilbereich und benötigte eine Unterkunft für sein florierendes Baumwoll-Import- und Exportgeschäft.Damals sah es in der Gegend rund um den Italiener an der Zürichbergstrasse noch ganz anders aus: Die Gemeinde war ländlich und weitgehend von malerischen Rebbergen und Bauernhöfen dominiert. Als Kontrast erhob sich das zum Himmel strebende neue Geschäftshaus mächtig über alle anderen Bauten und thronte inmitten der weitläufigen Parkanlage, die das gesamte heutige Gelände der Kantonsschule Rämibühl umfasste.

Vom Palazzo zum Gruselschloss

Menschen kommen und gehen von dieser Welt. Nachdem Nina und Johann Fierz das Zeitliche gesegnet hatten, suchte sich der Palazzo neue Bewohner. Er gab sich wählerisch und sah sich eine ganze Weile nach geeigneten Nachfolgern um. 1910 fand er sie schliesslich: Das Gerichtsmedizinische und das Zahnärztliche Institut der Uni Zürich. Immerhin hatte er die Kindheit hinter sich und wollte etwas Neues ausprobieren. Dies bedeutete eine tiefgreifende Veränderung der gesamten Raumstruktur Sempers. Das war möglich, weil der Palazzo damals noch nicht unter Denkmalschutz stand. So ist das eben in der Pubertät: Man will anders sein, rebellieren.

Bald umgab eine düstere Aura das Gebäude. Die aus den neu eingerichteten Labors aufs Trottoir dringende Abluft der Analysemittel Xylol, Formalin oder Essigsäure liess vorbeigehende Passanten an Leichengerüche denken. Anscheinend waren die Gerüche so stark, dass selbst NZZ-Journalisten dem Italiener einen Besuch abstatteten und den Jungspund ins Rampenlicht brachten. Er soll ausserdem – wie

so mancher junge Mann – ein Flair für schnelle Autos gehabt haben. In seiner unterirdischen Crash-Strecke stellten Rechtsmediziner Unfallvorgänge nach. Dort soll nicht nur mit Puppen getestet worden sein, munkelt man. Deshalb beschlich viele Leute ein unbehagliches Gefühl, wenn sie an den grossen vergitterten Fenstern vorbeigingen.

«Ich fragte mich auch immer, wo die wohl in diesem dunklen Steinhaus liegen und vor sich hin stinken. Da schauderte es mich schon ein wenig», erzählt Katharina Maier, langjährige Oberassistentin am Romanischen Seminar und Mitglied der Baukommission für den Umbau des Palazzos zur Nutzung für das Romanische Seminar. Sie kennt den Palazzo noch aus ihrer Studienzeit.

Rund 50 Jahre nach ihrem Einzug verliessen die Zahnmediziner den Italiener, und die Germanisten fanden in den leer gewordenen Räumen ein temporäres Domizil. Eine heftige, aber kurze Affäre, denn schon 1982 verliessen auch sie ihn wieder. Die Rechtsmediziner beanspruchten dann den ganzen Palast, bis sie ihn wegen ihres Umzugs den Irchel 1992 räumen mussten.

Neue Bewohner, neues Kleid

Damals überlegten sich einige, ob es sich noch lohnte, den mittlerweile alten Ita­liener am Leben zu erhalten. Durch viele tiefgreifende Umbauten war der Palazzo zumindest im Innern kaum mehr als

Semper-Bau zu lesen. Ein gleich grosser Neubau hätte zudem ein bis zwei Stockwerke mehr fassen können. Der Toskaner hoffte und bat, vom reinen rationalen Effizienzdenken verschont zu werden – und hatte schliesslich Erfolg. Ein neuer Nutzer war bald gefunden: das Romanische Seminar. Dieses litt unter Platzmangel, und schliesslich würde ein florentinischer Renaissance-Palast auch architektonisch und kulturell vorzüglich zu den Romanisten passen.

Knapp dem sicheren Tod durch Bulldozer entronnen, wurde der Palazzo nachdenklich. Er erkannte auf einen Schlag die ultimative Wahrheit: Nur in seiner ursprünglichen Gestalt würde ihn die moderne Welt dulden. Und so legte er sich unters Messer, um seinen neusten Nutzern zu gefallen. Mit den chirurgischen Eingriffen wurde der Zürcher Architekt Willi Egli beauftragt. Dieser stand vor der schwierigen Aufgabe, das Bauwerk wieder möglichst nahe an seine ursprüngliche Gestalt zu bringen. Aber die letzten Baupläne waren verschollen.

Auch mussten die Ansprüche der Franzosen, Italiener, Portugiesen, Rätoromanen, Rumänen, Spanier, der Denkmalpflege, der Feuerschutzpolizei und des Kantons und die Wünsche der für Bauten und Räume beauftragten Abteilung der Universität berücksichtigt werden. So stand das Haus schliesslich fast zehn Jahre leer, da gleich bei Planungsbeginn eine Reihe langwieriger Rekurse folgte. Der Palazzo nutzte diese zehn Jahre zum Nachdenken und zur Erholung. Er wägte die verschiedenen Argumente seiner Berater ab, überlegte sich, was er wirklich wollte, wurde erwachsener und erkannte die Notwendigkeit wie auch die Schönheit, die in der Kombination von alt und neu liegt.

Letzten Endes konnte Willi Egli seine Pläne in die Tat umsetzen. Sein Hauptziel war es, die Raumstruktur Gottfried Sempers wieder lesbar zu machen. Auch die Raumnutzung sollte wieder an diejenige der ersten Nutzer angelehnt sein. So befinden sich die heutigen Sekretariate und Büros der Professoren und Assistenten in den Seitenflügeln des Palazzos, die schon im 19. Jahrhundert die Verwaltungseinrichtungen beherbergten. In den ehemaligen Lagerräumen in der Mitte des Gebäudes sind heute die Bibliotheken untergebracht.

Um die neue Sichtbarkeit des Palazzos als Werk Sempers sicherzustellen, bestehen die Abtrennwände der verschiedenen Büros mehrheitlich aus Glas. Selbst die Bürotüren sind durchsichtig. Durch diese Transparenz, die nur durch einige Bücherregale etwas verringert wird, bleiben die Seitenflügel als ein Ganzes bestehen. Semper plante sie als grosse Einheit und seine Handschrift ist jetzt wieder lesbar. Durch die Glaswände fällt viel natürliches Licht ins Gebäude und hellt die ehemals düstere Stimmung auf.

Big Brother und Jusstudenten

Doch fühlen die Professoren und Assistenten in ihren gläsernen Büros nicht einen Mangel an Privatsphäre? Immerhin kann jeder Vorbeigehende sehen, was in den verschiedenen Räumen so getrieben wird. «Ich mag die ganze Raumwirkung hier», meint Dr. Katharina Maier, die ihr transparentes Büro im ersten Stock hat, «aber es war schon ein Umgewöhnen. Meist klopfen die Leute gar nicht an, sondern schneiden irgendwelche Faxen vor der Tür, um auf sich aufmerksam zu machen».

Einigen bereite dieses Big-Brother-Phänomen jedoch ein unbehagliches Gefühl. «Manche glauben, weniger in einem Büro zu arbeiten als in einem Affenhaus», erzählt Maier lachend.

Die hellen Arbeitsplätze in den Lesesälen ziehen nicht nur Studenten der Romanistik an. Besonders Jusstudenten scheinen die Atmosphäre im Haus, das nur wenige Meter von ihrem eigenen Seminargebäude entfernt liegt, zu schätzen. «Wir mussten sogar einen eigenen Saal für unsere Studenten reservieren», erzählt Maier, «denn diese stehen nicht ganz so früh auf wie die Juristen.» Doch auch wenn der Platzmangel ein dauernder Begleiter der Sprachwissenschaftler ist, möchten sie das lichtdurchflutete, farbige Semper-Haus an der zentralen Lage auf keinen Fall missen. Und auch der Italiener, der schon erfolgsorientierte Textilproduzenten, Sezierübungen im ehemaligen Gartenhäuschen, an üblem Zahnweh leidende Patienten auf den Stühlen der Dentalhygieniker und büchervernarrte Germanisten erlebt hat, mag die unkomplizierten Romanisten gerne noch etwas länger beherbergen. Er ist eben geduldig geworden, der Hitzkopf in jungen Jahren. ◊