Der Tell-Mythos kann in ganz verschiedenen Kulturen gefunden werden. PD

Mythen sind allgegenwärtig

Was früher eine unglaubwürdige Erzählung war, liefert heute Stoff für Hollywood-Filme. Professor Thomas Fries über die Entwicklung von Legenden.

18. Mai 2010

Ein Mythos ist ursprünglich eine Göttergeschichte (deshalb im Volksmund oft einfach eine etwas unglaubwürdige Erzählung), später allgemein eine Erzählung berühmter Menschen oder Menschengruppen. Diese Erzählung lebt in ihren Bildern, Figuren, Stoffen und Motiven im kulturellen Gedächtnis der Menschheit weiter, verändert und vermehrt sich dabei ständig. Eine der bedeutendsten Mythensammlungen der Antike, Ovids „Metamorphosen“, bringt diese Wandlungsfähigkeit nicht nur im Titel (Geschichte der Welt als Abfolge von Verwandlungen), sondern in unzähligen Einzelmythen (z.B. Europa, Orpheus) zum Ausdruck und ist bis heute, für Künstler, Literaten und auch Psychologen (Narzissus, Pygmalion) eine Fundgrube für eigene Werke geblieben.

Während die einen Mythen einen Ursprung erklären, der sich nicht denken lässt (Turmbau zu Babel, Entdeckung des Feuers durch Prometheus), weisen andere Mythen in prägnanten Bildern (Malerei, Film) und profilierten Erzählabläufen (Literatur, Film) auf Grundkonflikte menschlichen Lebens hin, die sich um einen nicht fixierbaren dynamischen Kern gruppieren. Damit übernimmt der Mythos neben der Funktion des Erklärens (des Nicht-Erklärbaren) auch jene des Stofflieferanten und der positiven oder fatalen Handlungsvorlage, eine Art Orientierungsschablone für menschliches Verhalten, für ein Individuum (Antigone, Ödipus, Don Juan) oder für ein Kollektiv (mosaische Landnahme). In der Folge der Aufklärung setzen sich viele Richtungen in allen Wissenschaften die Entmythologisierung (Übergang vom Mythos zum Logos) als Ziel, während etwa die Kritische Theorie (Adorno-Horkheimer) oder der Strukturalismus (Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes) nicht nur die Kontinuität des Mythos in der Moderne bestätigen, sondern den Versuch der Entmythologisierung gerade als den Mythos unserer Zeit begreifen.

Ein Mythos lässt eine unbebeschränkte Menge von Varianten zu, ist aber (mit Lévi-Strauss) nicht auf einen Ursprung zurückzuführen: Er gibt seine Grundstruktur erst in Berücksichtigung aller Varianten zu erkennen. Dabei ist die Zahl der für eine Kultur wichtigen Mythen beschränkt. Ausserdem fällt auf, dass derselbe Mythos (z.B. Wilhelm Tell) in ganz verschiedenen Kulturen gefunden werden kann.

Auch ein Mensch unserer Zeit ist, oft ohne es zu wissen, ständig von Mythen umgeben, einige Medienfunde aus den letzten Tagen als Probe: Ein am Fernsehen gezeigter Film mit Tom Hanks, „Cast Away“, kombiniert Motive aus zwei Mythen (Odysseus, Robinson). – Am Filmfestival von Cannes findet die Premiere von „Robin Hood“ statt, die NZZ fragt, warum „seine Geschichte aktueller denn je“ sei. – Im SPIEGEL wird, im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, auf den „Mythos Stalin“ hingewiesen, an dem sich drei massgebliche politische Tendenzen des heutigen Russland orientierten: grundsätzliche Ablehnung, Ablehnung „nur“ des nicht weiter spezifizierten Gulags, Ruf nach einem neuen Stalin. 57 Jahre nach dem Tod des Menschenschlächters ist sein Fortleben im kulturellen Gedächtnis (und damit der Einfluss seines Mythos auf die aktuelle Politik Russlands) gesichert. Stalin wusste sich ja selbst sehr gezielt der Mythentradition des starken und deshalb notfalls auch grausamen russischen Herrschers (mit Eisensteins Film „Iwan der Schreckliche“) zuzuordnen. Im selben Artikel ist dann von „einem Strom des Leidens so breit wie die Wolga“ (Alexander Solschenizyn) die Rede, und so ergänzt sich auf fatale Weise das mythische dichterische Bild kollektiven Leidens mit dem Mythos des Täters. – Und wenn schliesslich die NZZ in einem Artikel über die Rating-Agenturen den Untertitel „Die Boten am Pranger“ verwendet, so wird damit auf die uralte Geschichte angespielt, nach welcher der Bote, welcher eine schlechte Nachricht überbringt, vom Empfänger hingerichtet wird – keine gute Botschaft für die Rating-Agenturen!

Prof. Dr. Thomas Fries lehrt und forscht seit 1990 an der Universität Zürich. Er ist Dozent am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie am Deutschen Seminar.