Ist die Vision der ETH von einer nachhaltigen Welt eine Utopie? Marius Buner

Ein neuer Zeitgeist

Was die Uni gestern predigte, setzt die ETH heute um. Wie die Hochschule Nachhaltigkeit vorlebt und innovatives Denken produziert.

Science City ist noch nicht einmal fertig erstellt, und schon räumt der futuristische ETH-Campus erste Preise ab: Der Initiant des Projekts, Gerhard Schmitt, wurde in Strassburg soeben mit dem Europäischen Wissenschafts-Kultur-Preis ausgezeichnet. Sämtliche Neubauten beziehen ihren Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen.

Der ETH ist es ernst mit der Nachhaltigkeit. Und sie ist längst zur Vorreiterin in Sachen Umweltschutz geworden. In den Gemäuern der ETH stapeln sich unzählige Dossiers mit Nachhaltigkeitsprojekten. Ihre Webseite enthält eine Vielfalt an Informationen, Aufrufe und Möglichkeiten, sich für eine grünere Hochschule zu engagieren. So spuckt die ETH denn auch regelmässig zukunftsweisende Innovationen aus. Das jüngste Beispiel ist die neue Monte-Rosa-Hütte, die sie letzten Herbst zusammen mit dem Schweizer Alpen-Club (SAC) fertig gestellt hat: Dieses Bauwerk auf 2883 Meter beweist, dass es auch anders geht. Die SAC-Hütte versorgt sich zu 90 Prozent selbst, das System regelt sich vorausschauend und effizient. Kurz: Es ist eine perfekte Symbiose von Intelligenz und Verantwortungsbewusstsein.

Sciency City und Monte Rosa sind Vorzeigeprojekte einer Vision. Die Hochschule ebnet den Weg in die Gesellschafts-Utopie des 21. Jahrhunderts. Damit nimmt sie ein Rolle ein, die Universitäten schon immer gehabt haben: Was einst Forderungen nach Demokratie, Menschen- oder Frauenrechten waren, ist heute der Ruf nach Nachhaltigkeit. Die ETH hat diesen Zeitgeist erkannt. Und sie lebt die Nachhaltigkeit vor.

Die ETH auf der Überholspur

Die Zeiten der handgeschriebenen Manifeste sind endgültig passé und die ETH hat für ihr Anliegen eine professionelle PR-Maschinerie im Rücken. Trotzdem lassen sich Visionen auch in heutigen Zeiten weder in den Walliser Bergen noch auf dem Papier oder im Internet verwirklichen.

Mobilisieren und sensibilisieren muss man die Leute noch immer vor der eigenen Haustüre. Und so setzt sich die ETH genau dort ambitionierte Ziele: Für alle Neubauten und Gesamtsanierungen ist der Minergiestandard ein Muss. Wo möglich, soll er übertroffen werden. Ihre Fahrzeugflotte wird nach ihrem gewöhnlichen Lebenszyklus nur noch durch effiziente Kleinwagen ersetzt – knapp zehn Toyota Prius stehen bereits in der Garage. Zudem wird der Gebäudebetrieb laufend optimiert; erneuerbare Energien, neue Heizkessel, Recycling und Abwärmenutzung sind selbstverständlich.

Für den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen hat die ETH vor wenigen Jahren eigens das Amt des Umweltbeauftragten geschaffen. Dominik Brem ist dafür zuständig, dass die ETH als eidgenössische Hochschule die Umwelt-Vorgaben des Bundes erfüllt. Seine Aufgabe betrachtet er als einfache, selbstverständliche Pflicht. «Wir müssen diese Standards gewährleisten», sagt er, und sein Schulterzucken ist am Telefon beinahe hörbar, «da haben wir gar keine Wahl.» Dass man diese aber entweder «gewährleisten» oder auf der Überholspur daran vorbeipreschen kann, quittiert Brem mit einem zufriedenen Lachen. «Es stimmt schon. Wir sind gut unterwegs. Aber natürlich kann sich die ETH dadurch auch profilieren.» Kann sie. Und das durchaus zurecht.

Innovation im Denken verankern

Ein wichtiger Teil der ETH-Strategie – vielleicht sogar der wichtigste – ist es, ihr Engagement bewusst an die grosse Glocke zu hängen. «Die Studierenden sollen mitkriegen, wo sie sich engagieren können und wo sich die ETH für eine nachhaltige Entwicklung einsetzt», sagt Christine Bratrich, Geschäftsführerin der ETH-Geschäftsstelle für Nachhaltigkeit. Sie sitzt auf einem alles andere als verstaubten Bürosessel. «ETH Sustainability» ist dafür da, Projekte, Initiativen und Personen zu koordinieren und zu unterstützen, welche die ETH nachhaltiger gestalten. Bratrich geizt nicht mit grossen Worten: «Wir möchten die Studenten zu freien Geistern erziehen. Sie sollen frei denken, gross denken, innovativ sein und dabei die Nachhaltigkeit in ihrem Denken verankern.» Dass sie damit an ihrem eigenen Stuhl sägt, nimmt sie gerne in Kauf. «Im Idealfall braucht es unsere Stelle in zwanzig Jahren nicht mehr, weil das nachhaltige Handeln selbstverständlich geworden ist.» Ambitiös angelegte Vorhaben wie Science City sind somit nicht einfach stillschweigend nachhaltig – sie werden bewusst popularisiert. Man wird kaum einen ETH-Studenten finden, der nichts daüber zu sagen weiss – und der den neuen Campus nicht auch irgendwie «sehr cool» findet. Genau damit erreicht die ETH ihr Ziel: Ihre Abgänger sollen die ETH verlassen und das nachhaltige Denken als selbstverständliche Denkweise ins Berufsleben mitnehmen. Für Bratrich ist die Sachlage klar: «Wir sind global gesehen an einem Punkt angelagt, an dem nichts-tun keine Option ist, um mit den grossen Herausforderungen unserer Zeit umzugehen», sagt sie nüchtern. «Also ist es die Aufgabe der ETH, die Studierenden mit den nötigen Informationen zu versorgen, damit sie nicht nur jetzt, sondern auch noch später entsprechend handeln.»

Entsprechend stark gewichtet wird die Nachhaltigkeitsthematik auch in der Lehre: Die Dozenten werden angehalten, das Thema bewusst aufzugreifen und gemäss Christine Brachtrich funktioniert dies ausgesprochen gut. «Die Professoren bemühen sich, die Nachhaltigkeit nicht nur in die eigenen Veranstaltungen miteinzubeziehen, sondern auch interdisziplinäre Kurse und Workshops anzubieten.»

Die ETH versucht die Studenten auf jeder erdenklichen Ebene abzuholen. So unterhält sie beispielsweise die Plattform Ecoworks, die studentische Ideen unterstützt, welche die ETH nachhaltiger machen oder den Nachhaltigkeitsgedanken publik machen möchten. Daraus entstanden sind bereits Projekte wie «Eat less CO2», das die vegetarischen Mensamenüs attraktiver machen möchte. «Trainforplane» will Dienstreisen vom Himmel auf die Schiene verschieben und «Inno-Rain» das Trinkwasser sparen. Die Liste solcher Projekte ist lang.

Was macht die Uni?

Die Universität Zürich war einst Hochburg der grossen Ideen und gesellschaftlichen Utopien. Die Visionen und Träume sind nun aber ein Haus weitergezogen. Wie die ETH gehört auch die Uni zu den zwanzig grössten Energieverbrauchern der Stadt. Eine nachhaltige und effiziente Energiepolitik hat für sie aber scheinbar keine Priorität. Es gibt zwar ein Energieleitbild, doch dieses geht kaum über die Minimalstandards hinaus: Dass bei Neubauvorhaben der Einsatz von erneuerbaren Energien geprüft wird, bei der Beschaffung neuer Geräte nur solche der Energieklassen A-C zulässig sind und in den meisten Räumen Bewegungsmelder das Licht regulieren, ist weder weltbewegend noch neuartig. Somit hält die Uni der ETH auf den ersten Blick wenig entgegen. Doch wer sich tiefer in die Materie hineingräbt, merkt, dass dieser Schein trügt: Die alte Dame investiert schon seit zwanzig Jahren in die Energieffizenzsteigerung im Bereich der Haustechnik. Auch sie hat auf den Dächern der Irchel-Gebäude Solarzellen installiert und nutzt in der Calatrava-Bibliothek Erdwärme. Bloss kommuniziert sie das nicht. Und in den letzten Jahren kam die Entwicklung ins Stocken.

Die Uni muss sich nicht verstecken

«Wir haben schon sehr viel gemacht und sind auch auf einem guten Weg», betont Peter Meier, der Energiemanager der Universität Zürich. Er hat dieses Amt im Mai zusätzlich zu seinen bisherigen Aufgaben übernommen. Eigentlich ist er Leiter der Haustechnik. «Natürlich stehen uns als kantonale Insitutionen viel weniger Ressourcen zur Verfügung als der ETH. Ausserdem wird jede weitere Effizienzsteigerung umso teurer, je effizienter das System schon ist.» Doch selbst wenn der Uni finanziell die Hände gebunden sind, Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und Umweltbewusstsein stehen nicht an der obersten Stelle der Agenda. Im aktuellsten Jahresbericht steht in einer Randbemerkung, dass die Uni unter anderem mit der Optimierung der Lüftungslaufzeiten und der Beleuchtung den Verbrauch im Jahr 2009 um vier Prozent senken konnte. Seit dem Millennium ist es das erste Mal, dass der Energieverbrauch in einem Jahresbericht überhaupt ein Thema ist – und das in einer Institution, die mit allen ihren Gebäuden so viel Energie verbraucht wie eine Gemeinde mit 10'000 Einwohnern. «Die Uni misst dem Energie-Thema wohl noch nicht denselben Stellenwert bei, wie das die ETH tut», räumt Meier ein. Das ist schade, denn die Uni müsste sich eigentlich nicht verstecken. Dies betont auch Dominik Brem: «Die Uni setzt durchaus interessante Projekte um», sagt er. «Bei der Regenwassernutzung oder im Energiebereich ist sie sehr fortschrittlich», lobt er. Nur bekämen die Studenten und die Öffentlichkeit davon wenig mit. «Die Uni verkauft ihr Engagement klar unter seinem Wert», bedauert er.

In der Lehre sind an der Uni Themen der Nachhaltigkeit nur gerade in einigen Vorlesungen an der naturwissenschaftlichen Fakultät präsent. Und dies, obwohl sie sich für Fachrichtungen wie Wirtschafts- oder Politikwissenschaften geradezu aufdrängen würden. Auch die Synergien, die dank dem grossen Engagement der ETH möglich wären, bleiben ungenutzt: Die Initiative für gemeinsame Aktionen geht höchstens von der ETH aus. Sie bezieht in einzelne Projekte auch Unistudenten mit ein und hat ironischerweise früher als die Uni erkannt, wie wertvoll geisteswissenschaftliche Ansätze für die Thematik sind: «Gerade die Publizistik oder die Wirtschaftswissenschaften sind im interdisziplinären Forschungsbereich für uns sehr interessant», betont Christine Bratrich. Doch die Uni-Studierenden profitieren auch indirekt vom Einsatz der ETH: Sie essen die fleischlosen Menüs der ETH-Mensa, besuchen den ASVZ im nachhaltigen Sport Center in Science City oder werden durch die physische Nähe zur ETH genauso von den Sensibilisierungsaktionen angesprochen wie ETH-Studierende.

Sparpotenzial an beiden Hochschulen

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint: Diese Themen gehen an der Uni keinesfalls vergessen. Sie weiss sehr genau, wo sie ihren ökologischen Fussabdruck noch verbessern sollte: Peter Meier weist vor allem auf das Sanierungspotenzial der Gebäude hin. Für grosse Würfe fehlt jedoch das Geld. Auch nach einer solchen Sanierung könnten sich die alten Gebäude nicht selbst versorgen, wie dies Science City tut. Die Uni setzt vielmehr auf kleine Schritte: Vor einem Jahr lancierte sie die Informationskampagne «Abgeschaltet», wobei auf Flugblättern darauf hingewiesen wurde, dass Geräte, die auf «Stand-by» geschaltet sind, sinnlos Energie verbrauchen. Ausserdem verteilten die Betriebsdienste gratis Sparschalter und Schaltuhren an die Uni-Mitarbeiter. Der Effekt: Die Uni reduzierte ihren Energieverbrauch um vier Prozent. Das Ziel wären zwei Prozent gewesen. In diesem Tempo kann es weitergehen.

Auch für die ETH haben ihre eigenen Visionen Grenzen: So bereiten Dominik Brem derzeit vor allem zwei Dinge Kopfzerbrechen: Die Dienstreisen und das Recycling-Papier: «2010 wollen wir einen Recyclingpapier-Anteil von 50 Prozent erreicht haben. Das haben wir noch nicht geschafft.» Warum nur so wenig? «Ich weiss nicht, warum es in den Departementen so viel Widerstand gibt», wundert sich Brem. «Eigentlich ist die Sache doch völlig einleuchtend, aber es gibt immer jemanden, der auf weisses Papier besteht.» Seit diesem Jahr wurden allerdings die von den Uni-Studenten stets mit Neid beäugten Gratisdrucke der ETH-Studenten zu Gunsten der Umwelt auf – noch immer grosszügige – 800 Stück pro Person kontigentiert. Etwas ratlos ist Brem in Sachen Flugreisen: «Die Strategie der ETH Zürich der internationalen Vernetzung steht dem Bestreben, die Flugreisen einzudämmen, diametral entgegen», erklärt er. «Das Fliegen einzuschränken ist fast unmöglich und mit Forschungsgeldern CO2-Zertifikate zu kaufen, kommt nicht in Frage.» Insgesamt sieht die CO2-Bilanz der ETH dennoch vielversprechend aus: Bis 2020 will die Hochschule ihre Emissionen auf die Hälfte reduzieren. «Wir werden dieses Ziel sicher massiv unterschreiten», prophezeit Brem.

Er klingt gelassen dabei. Für die ETH ist die Gesellschafts-Utopie des 21. Jahrhunderts schon heute eine Selbstverständlichkeit.