Müssen Studierende für ihre Vorlesungen bald auf Dächer steigen? Samuel Nussbaum

Hoffnungslos überfüllt

Die Universität Zürich hat schon seit den 60er-Jahren ein Platzproblem. Wie Studierende sich heute durch die Gänge drängeln und Sitzplätze jagen.

27. April 2010

«In einer Vorlesung musste ich 45 Minuten früher da sein, um einen Platz zu bekommen», berichtet die Psychologiestudentin Sandra, die überbelegte Veranstaltungen auch schon storniert hat. Vor allem die Einführungsvorlesungen der populären Studiengänge Wirtschaft, Jus, Psychologie und Politologie sind oft hoffnungslos überfüllt. Hinzu kommt, dass mit der Einführung von Bologna die Zahl der zu besuchenden Lehrveranstaltungen gestiegen ist.

Auf den Platzmangel angesprochen, antwortet Thomas Tschümperlin, Leiter der Hörsaaldisposition an der Uni Zürich: «Was will ich mehr als zusätzliche Räume?» Das sei auch der Wunsch der Universität. Denn obwohl noch dieses Jahr in Oerlikon ein dritter provisorischer Standort erschlossen werde, sei das nur ein Tropfen auf den heissen Stein.Mehr Räume und grössere Säle wünschen sich auch alle Studierenden. Unter dem Platzmangel leidet nämlich nicht nur der Hosenboden, sondern auch die Arbeitsatmosphäre. «Bei mir stellt sich eher eine Art ‹psychischer Platzmangel› ein. Das klingt vielleicht komisch, aber bei so vielen Leuten ist es nicht einfach, mitzudenken und zu 100 Prozent dabei zu sein», erklärt Thomas, der im Hauptfach Politologie studiert.

Drängeln in der Mensa

Erholen kann er sich oft auch nach der Vorlesung nicht, denn in der Mensa geht der erbitterte Kampf um die Plätze nahtlos weiter. In den vergangenen zwei Jahren hat die Zahl der verkauften Mittagessen kontinuierlich zugenommen. Ob diese Zunahme auf den tiefen Menüpreis, die gute Qualität unserer Küche oder aber ganz einfach auf die zunehmende Studierendenzahl an der Universität Zürich zurückzuführen ist, kann auch der Betriebsleiter der Mensa Uni Zentrum, Alfred Kläger, nicht genau beantworten. Wahrscheinlich sei es eine Kombination aus allen drei Faktoren. «Wir arbeiten daran, die Sitzplatzanzahl in den beiden Mensen sowie im Lichthof zu erhöhen. Zum Glück haben wir noch etwas Spielraum, was die Dichte der Bestuhlung angeht», versucht Kläger zu beruhigen. Zudem mache man sich Gedanken, wie man das Problem längerfristig lösen könnte. Konkrete Pläne gibt es aber noch keine.

Überfüllte Wahlmodule

Ist die Schicht in der Mensa um – Nachschöpfen und lange Sitzen bleiben gibts nicht mehr – geht es auf zum Wahl­modul am Nachmittag. Doch inzwischen kommt es auch schon in kleinen Veranstaltungen zu massiven Platzproblemen. Dort entsteht ein Durcheinander, wenn sich BA- und Lizstudierende mit Gasthörern mischen, die Dozierenden aber nur mit den BA-Studierenden rechnen, da sie von denen eine Teilnehmerliste bekommen. «Das Problem ist meist innert zwei Wochen behoben, indem Gasthörer kategorisch ausgeschlossen werden und für den Rest die Plätze enger beschränkt werden», erzählt die Geografiestudentin Stefanie. Das ende aber meist mit viel Missmut.

Auch der FVJus-Präsident David berichtet von Problemen. Die Kursleiter der ersten Masterveranstaltungen müssten ihre Räume ohne Erfahrungswerte buchen, weshalb auch diese oft überfüllt seien. «Die Dozierenden bemühen sich in solchen Fällen immer, grössere Räume oder Übertragungshörsäle zu bekommen», betont David. Dies ist jedoch nicht immer möglich, denn die Hörsaaldisposition wird jedes Semester mit Unmengen solcher Anfragen überhäuft. «Wir geben uns die grösste Mühe, allen Wünschen nachzukommen, aber es sind enorme Anforderungen zu bewältigen», sagt Tschümperlin.

Selektion auf dem Hönggerberg

Vor der Herausforderung, Massen von Studierenden auf begrenzte Hörsäle zu verteilen, steht auch die ETH. «Als ich an meinem ersten Studientag das Architekturgebäude der ETH Hönggerberg betrat, verschlug es mir den Atem: Wie sollte eine so grosse Menschenmasse bloss Platz finden in einem Gebäude?», erzählt der Architekturstudent Michael. Doch bereits in den ersten Wochen des Studiums merkte er, wie sich der Ansturm langsam, aber sicher verringerte. Viele gaben angesichts des proppenvollen Stundenplans bereits auf. Doch auch jenen, die sich davon nicht abschrecken liessen, wurde die Sache nicht einfach gemacht. Zwischenkritiken und Präsentationen, Abgabetermine und Ähnliches verlangen den Studierenden einiges ab: Die Mehrheit arbeitet bis spät in die Nacht an ihren Modellen, nicht wenige übernachten gar dort. «Die Arbeiten der Studierenden werden oft nicht konstruktiv kritisiert, sondern regelrecht verrissen. Die Notengebung ist extrem willkürlich. Ist man einem Assistenten oder einer Assistentin unsympathisch, hat man keine Chance.» So erstaunt es nicht, dass im Laufe der ersten Semester immer mehr das Handtuch werfen und gar nicht erst an den Basisprüfungen am Ende des ersten Jahres erscheinen – was auf natürliche Weise wieder mehr Platz schafft. Liegt dies in der Absicht der Verantwortlichen?

Rudolf Krieg, der Leiter des Studiensekretariats vom Departement Architektur, erklärt sich das Geschehen so: «Dass sich die Zahl der Studierenden im Laufe des Semesters verkleinert, ist nicht die Folge davon, dass viele aufhören. Vielmehr schauen sich die Studierenden zu Beginn des Semesters zunächst eine grosse Zahl an Veranstaltungen an und entscheiden sich nach zwei, drei Wochen, welche sie definitiv belegen wollen.» Das Platzproblem im Departement Architektur ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Auch hier trägt die Bolognareform einen grossen Teil dazu bei. «Obligatorische Lehrveranstaltungen sind voll, viel mehr Studierende erträgt es da nicht», erklärt Krieg. Letzten Herbst kamen für den Master zusätzlich 100 ausländische Studierende hinzu, was das Departement platztechnisch an seine Grenzen bringt und mit der Frage nach künftigen Selektionsmassnahmen konfrontiert. Krieg betont, dass die Qualität der Lehre gewährleistet werden müsse. Also wird die Selektion wahrscheinlich über die Noten geschehen. Ein Student aus Zürich mit minimalen BA–Noten, wird neben einem sehr guten ausländischen Bewerber demnach nicht bestehen können.

Neubau für die ETH

Eigentlich könnten sich die Architekten die Lösung ihrer Platzprobleme gleich selber bauen. Tatsächlich ist auf dem Hönggerberg ein weiterer Neubau in Arbeit und auch neben dem Hauptgebäude haben die Bauarbeiten begonnen. Der bis zu zehn Stockwerke hohe Neubau «Oberer Leonhard» der ETH Zürich wird unter anderem auch die vielen zukünftigen Maschinenbauingenieure beherbergen und kann 2013 bezogen werden. Im Moment herrschen aber an der ETH mit ihren rund 15’000 Studierenden noch keine akuten Platzprobleme.

«Anders als an der Uni sind die Studierendenzahlen an der ETH Zürich in den 90er-Jahren nicht stark gewachsen», erklärt Dieter Wüest, Leiter des Rektorats. Aufgrund der steigenden Nachfrage nach Ingenieuren und Naturwissenschaftlern wurde in den letzten Jahren ein Wachstum gezielt gefördert. An der Uni Zürich wurde ein solches nicht explizit angestrebt. Trotzdem sind die Studierendenzahlen in den letzten Jahren stark gestiegen. Allein im letzten Semester wuchsen sie um über vier Prozent. Wenn die Uni weiter so wächst, platzt sie bald schlicht aus allen Nähten.

Stadt und Kanton sind gefordert.

«Wir benötigen dringend mehr Raum, aber in naher Zukunft wird es nicht möglich sein, mit dem Wachstum mit zu halten», bestätigt Werner Hautle, Leiter der Abteilung Bauten und Räume der Uni Zürich. Der neue Standort in Oerlikon und die Übernahme der Gebäude der Pädagogischen Hochschule Zürich im Jahr 2012 seien nur eine kleine Entlastung. Im Moment bewirtschaftet die Uni rund 200 Gebäude mit einer Gesamtfläche von circa 550000 Quadratmeter Grundfläche. Das entspricht der Grösse von etwas mehr als 100 Fussballfeldern. Für die Bereitstellung dieser Infrastruktur für Forschung und Lehre werden derzeit jährlich 157 Millionen Franken eingesetzt. Zurzeit ist der Kantonsrat zudem eher auf Sparkurs und vorsichtig mit neuen Investitionen. Zwar gibt es einen Masterplan für die bauliche Erweiterung des Hochschulgebiets Zürich-Zentrum. Er wurde von Vertreterinnen und Vertretern der Uni, ETH, dem Universitätsspital und von Stadt und Kanton Zürich bereits 2001 in die Wege geleitet. Der Plan soll die Identität des Hochschulstandortes Zürich stärken und dem steigenden Raumbedarf für Bildung, Forschung und Gesundheitswesen langfristig und nachhaltig Rechnung tragen. Gleichzeitig sollen Freiräume und Fussgängerbereiche attraktiver gestaltet, zweckentfremdete Räume zurück gewonnen und die Attraktivität und Erreichbarkeit der Sammlungen und Museen verbessert werden. Das klingt toll auf dem Papier, doch wird der Plan – wenn überhaupt – innerhalb eines Zeitraumes von über 30 Jahren umgesetzt und kann damit zur Lösung der akuten Platzprobleme nicht beitragen.

Studienplätze sind auch ein politisches Thema. «Einerseits sind viele neue Studierende ein Erfolg für den Hochschulstandort Zürich, andererseits muss der Kanton ihnen auch Platz zur Verfügung stellen», findet Hautle. «Die Uni ist stark abhängig vom Kanton und Hochbauamt, aber eine Zulassungsbeschränkung will im Moment niemand durchsetzen», sagt auch Tschümperlin. Einzig an der Medizinischen Fakultät gibt es im Moment eine Beschränkung in Form des Numerus Clausus, und sogar der ist angesichts des drohenden Ärztemangels inzwischen umstritten. Für die zukünftigen Studierenden der zweit- und drittgrössten Fakultäten der Uni, die wirtschaftliche- und rechtswissenschaftliche, besteht also im Moment offenbar keine Gefahr.

Seminare ohne Platzprobleme

Keine Gedanken über Zulassungsbeschränkungen müssen sich die so genannten Orchideenfächer machen. Die mit über 12’000 Studierenden mit Abstand grösste Fakultät, die Philosophische, gewährt vielen dieser Mini-Institute Unterschlupf. Es sind angenehme Kunden für die Hörsaaldisposition, da sie aufgrund kleiner Studierendenzahlen keine zusätzlichen Räume benötigen. Ein Beispiel ist das Mittellateinische Seminar (MLS). Veranstaltungen werden dort in einem der zwei vorhandenen Bibliotheksräumen durchgeführt. Die Veranstaltungen wurden bis anhin von fünf bis maximal 15 Teilnehmenden besucht. In diesem Semester sind es allerdings aussergewöhnlich viele: In Seminar und Vorlesung jeweils 20. «Im Normalfall reicht der eine Bibliotheksraum, wo 30 Personen bequem Platz finden, problemlos aus», sagt die Vorsteherin des MLS, Carmen Cardelle de Hartmann. Wäre der Andrang für eine Veranstaltung so gross, dass der Raum nicht alle Teilnehmenden beherbergen könnte, müsste Cardelle natürlich einen zusätzlichen Veranstaltungsraum beantragen. «Das würde aber zu Lasten anderer Fächer gehen.» Für den Fall der Fälle hat sie eine eigene Lösung in der Schublade. Sie würde die Gruppe teilen und die Veranstaltung zweimal abhalten.

An der theologischen Fakultät gibt es lediglich vier Räume, in denen Veranstaltungen durchgeführt werden können. Die Bibliothek ist quer durch das ganze Haus verstreut und befindet sich auch in den Veranstaltungsräumen. Das Gebäude wird allmählich zu klein für die vielen Mitarbeitenden und Doktorierenden. Pierre Bühler, Professor für systematische Theologie, beobachtet eine zunehmende Beliebtheit von Grundkursen und Proseminaren. «Vorlesungen werden je länger je weniger besucht, da sie einerseits weniger Kreditpunkte einbringen und andererseits mehr eigenes Engagement für die Erarbeitung des Stoffes fordern.»

Das Stadtbild verändert sich

Bologna hat das Antlitz der Uni bereits verändert, der Masterplan für das Hochschulgebiet wird dasselbe mit der Stadt tun. Doch das betrifft unsere Generation nicht mehr. Wir werden uns auch in Zukunft mit vollen Tabletts durch hungrige Menschenmassen kämpfen. Wir werden auf den Treppen sitzen und in den guten alten Zeiten schwelgen, wenn wir Zürichs Stadtbild schon lange nicht mehr wieder erkennen. Und wie auch Politologiestudent Thomas sagt: «Das Rumsitzen auf der Treppe gehört zum Studifeeling! Daran werden wir uns später eher erinnern als an bequeme Stühle!»