Kurt Imhof ist Professor für Soziologie und Publizistik an der Universität Zürich. Denis Twerenbold

«Wir sind keine staatsbürgerlichen Eunuchen»

Soziologieprofessor Kurt Imhof ist in den Schweizer Medien ein häufig gesehener Gast. Er ist der Überzeugung, dass die Medienpräsenz von Professoren der Wissenschaft dient.

25. November 2009

Herr Imhof, macht eine ständige Medienpräsenz nicht süchtig?

(Überlegt lange) Natürlich, Aufmerksamkeit ist das wichtigste Gut. Das lässt sich an den verzweifelten Bemühungen vieler Jugendlicher und junger Erwachsener um Aufmerksamkeit durch ihre Partizipation in Reality-Formaten oder um Geltung im Social Web sehen. An mir habe ich das jedoch noch nie beobachtet. Ich habe eher Mühe damit. Mit der Rolle des Experten jetzt weniger als mit der des Staatsbürgers. Der Experte lässt sich viel direkter mit dem Rollenverständnis des Wissenschaftlers verbinden. Sobald der Schritt hinaus in die Staatsbürgerrolle erfolgt, wird man sehr viel angreifbarer. Man erhält auch sehr viele Zuschriften unter der Gürtellinie; im Kontext dieser Minarettdebatte ist das massiv. Man wird bedroht, von Leuten, die tatsächlich davon ausgehen, dass eine islamische Weltverschwörung in der Schweiz im Gange ist. Das zerstört das, was Wissenschaft braucht, nämlich den Elfenbeinturm, die Zurückgezogenheit, um gefahrenfrei denken und sprechen zu können. Wissenschaft ist organisierter Skeptizismus, entsprechend sind innerhalb der Wissenschaft auch die Evaluation von Positionen möglich, die von ausserhalb der Wissenschaft abstrus oder verquer scheinen mögen, und diese Freiheit wird einem ein Stück weit genommen.

Also wäre es besser, sich ein wenig aus dem medialen Diskurs zurückzuziehen?

Ja. Das muss man. Ich könnte sehr viel mehr Medienarbeit machen. Ich sage mehr ab, als dass ich annehme.

Trotzdem nehmen sie in Interviews Stellung zu Bioernährung, Politik, Jugendkriminalität, Waffenbesitz, Wirtschaftspolitik. Gibts in der Schweiz so wenig Experten oder warum kommen die Medien immer auf Sie zu sprechen?

Nun gut, mein Fachgebiet ist Öffentlichkeitssoziologie und damit die öffentliche Kommunikation. Mein Interesse gilt der Frage: Was erreicht durch welche Akteure auf der Basis welcher Logiken politische Resonanz und wird handlungsanleitend? Die Öffentlichkeit ist dem politischen System vorgelagert, das heisst, in der öffentlichen Kommunikation kandidieren permanent Problematisierungen um Aufmerksamkeit, sie begehren gleichsam um Eintritt in das politische System, wo sie in politische Macht verwandelt werden. Und hinten raus steuert die Politik in der Sprache des Rechts und mit administrativer Macht. Das sind Prozesse, die mich interessieren. Befähigt das Soziologiestudium allei­ne schon zur Behandlung eines breiten Themenspektrums? — Das muss das Soziologiestudium. Die Soziologie hat die Absicht, diejenigen, die Soziologie studieren, dafür einzunehmen, dass sie sich für gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken interessieren.

Da ist gewiss auch Selbstzweck dabei, dass Sie Werbung für ihr Institut, den «Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft» machen möchten?

Ja, weil für die Forschung Drittmittel nötig sind. Über öffentliche Resonanz gelingt es besser Drittmittel zu generieren.

Ist es denn legitim, als objektive Person aufzutreten und gleichzeitig möglichst viel Werbung für sein Institut zu machen?

Sicher. Ausserdem bedingt das eine das andere. Die Sozialwissenschaften sind Aufklärungswissenschaften. Sie haben eine Funktion jenseits des Elfenbeinturms. Und die Sozialwissenschaften sind darauf angewiesen, dass sie zu Mitteln kommen, um damit Forschungsprojekte realisieren zu können. Bei den Naturwissenschaften sind hohe Kosten legitimer. Die Sozialwissenschaften haben jedoch auch aufwendige Forschungsdesigns und haben teilweise hohe Infrastrukturkosten. Deshalb sind Drittmittel notwendig.

Gibt es auch Resonanz oder Kritik von den Kollegen, wenn Sie häufig in den Medien erscheinen, auch zu den Inhalten?

Ja, es gibt viele Auseinandersetzungen, Anregungen und Bestätigungen. Man kann dadurch Debatten auslösen unter Wissenschaftlern. Auf der Basis meiner Erfahrungen sogar deutlich mehr als durch Fachpublikationen.

Wie sieht das von seiten Universität aus? Wenn die eigenen Angestellten sich so häufig zu Wort melden?

Die Universitäten sehen sich selbst in einem Standortwettbewerb. Seit dem verschärft wahrgenommenen Wettbewerb zwischen den Universitäten sind Vermittlungsleistungen zwischen Universität, Wissenschaft und Gesellschaft wichtiger geworden.

Ermuntert die Universität Zürich die Medienpräsenz ihrer Dozierenden explizit oder werden sie zumindest nicht daran hindert?

Wir werden ermuntert. Die Universitäten haben aufgerüstet in diesem Kampf um mediale Aufmerksamkeit. Seit sich die Medien zu einem System ausdifferenziert haben, das sich am Konsumenten und nicht mehr am Staatsbürger orientiert, kommt die Wissenschaft hauptsächlich unter kritischen Gesichtspunkten in die Öffentlichkeit. Dies geschieht – neben der Beleuchtung von nachrichtenwerthaltigen personellen Auseinandersetzungen – primär unter dem Risikoaspekt der Nebenfolgen wissenschaftlicher Erkenntnis beispielsweise bezüglich Gentechnologie, Stammzellenforschungs- oder Atomenergiefragen. Neben der Darstellung von wissenschaftlichen Erkenntnissen liegen hier die Aufgaben für die Kommunikationsabteilung der Universität.

Gibt es keine Konflikte zwischen ihrem objektiven Status als Wissenschaftler und der Expertenrolle, wenn sie beispielsweise Position zur Minarettfrage beziehen?

Dann nehme ich eine andere Rolle ein. Man ist ja nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Staatsbürger.

Das sollte man doch trennen.

Stimmt, das sind zwei Rollen. Aber Wissenschaftler sind keine staatsbürgerlichen Eunuchen. Es ist nicht sinnvoll, wenn das wissenschaftliche Personal keine Aussagen machen darf zu politisch beziehungsweise normativ relevanten Aspekten. Das ist die Rolle eines Staatsbürgers. Wir alle haben unterschiedliche Rollen. Vom wissenschaftlichen Personal zu erwarten, es würde nur eine einzige Rolle erfüllen, wäre absurd.

Was glauben Sie, was erwartet man denn von Professoren, die sich in Medien äussern?

Wenn ich als Experte befragt werde, dann erwartet man das, was man mir im Expertenstatus zuschreibt, das sind Antworten zum Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation. Aber bei anderen Fragen, beispielsweise der Minarettfrage, nimmt man mich als Staatsbürger wahr. Das ist auch richtig.

Das können viele Bürger doch nicht unterscheiden.

Doch. Unterschiedliche Rollen gehören zur sozialen Grundvoraussetzung menschlichen Daseins.

Aber das wird doch nicht wahrgenommen.

Doch, klar. Jeder muss unterschiedliche Rollen einnehmen und das wird auch von jedem wahrgenommen. Sobald man den Entwicklungsstand des Kleinkindes hinter sich lässt, lernt man, dass man unterschiedliche Rollen wahrnehmen muss.

Die Frage stellt sich halt, ob Sie der Bürger wirklich als Staatsbürger sieht, wenn über dem Zeitungsartikel dann «Kurt Imhof, Soziologieprofessor an der Universität Zürich» steht.

Das ist doch einfach. Normative Aussagen sind staatsbürgerliche Stellungnahmen. Kognitive Aussagen sind Expertenaussagen. Wenn ich eine normative Aussage zur Minarettinitiative mache und sage, dass sie das völkerrechtlich gesicherte Grundrecht ritzt, damit ein Problem darstellt und das mit einer analytischen Dimension anreichere, nämlich der Einsicht, dass die Welt die Schweiz über eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit und über Rosinenpickerei in Bezug auf das Bankgeheimnis wahrnimmt, dann ist das eine Kombination einer analytischen Aussage und einer Expertenaussage mit einem normativen Schluss. Und die normative Aussage mache ich in der Staatsbürgerrolle.

Zurück zur Tatsache, dass immer dieselben Gesichter in den Medien auftauchen, Professoren wie Stahel, Jositsch oder Geiger zum Beispiel. Ist für einige Personen nicht die Medienpräsenz ein Wert an sich?

Wenn Jositsch auftritt, dann tritt er in seiner Politikerrolle auf. Hans Geiger ist sehr stark als Experte nachgefragt worden aufgrund der Aktualität der Bankenkrise. Es handelt sich um Nachfrageorientierungen und Aufmerksamkeitswerte seitens der Medien, die hier entscheidend sind. Die picken sich diejenigen hinaus, von denen sie sich am meisten erwarten und übersetzbare Aussagen bekommen. Das gehört zur Funktionsrolle des Journalisten, dass er über eine entsprechende Bandbreite von Leuten verfügt, die er ansprechen kann.

Einmal Experte, immer Experte?

Das stimmt schon. Das hat auch etwas zu tun mit der reduzierten Recherchierkapazität der Journalistinnen und Journalisten. Es gibt ja einen massiven Abbau. Viele Journalisten haben keine Zeit um zu recherchieren. Ich werde angefragt, beispielsweise plump zur Konzeptionierung von Beiträgen, weil sie vom Sachverhalt wirklich keine Ahnung haben. Das andere ist der Zwang zu Quotes, denn die alten Weltanschauungsorgane gibt es nicht mehr. Früher hat der Chefredaktor, der entweder Sozialdemokrat, katholisch-konservativ oder freisinnig-liberal war, die Welt erklärt. Das ist weggebrochen und an seine Stelle sind unter anderem die sozial- und geisteswissenschaftlichen Experten getreten. Diesen «Expertenboom» kann man seit den 60er Jahren in der Schweiz gut beobachten. Zuerst kam der Ökonome, dann der Psychologe, dann der Soziologe und dann der Politikwissenschaftler und mit der Verselbständigung der Medien von ihren ursprünglichen Herkunftskontexten auch der Kommunikationswissenschaftler. Das gibt eine Kumulierung, bis ein ganzes Terrarium von Experten vorhanden ist. Es ist ein Pullfaktor von seiten der Medien.

Ist die Wissenschaft also wichtiger geworden in der öffentlichen Kommunikation?

Ja, eindeutig. Aber gleichzeitig hat sie ihre privilegierten Selbstdarstellungsforen verloren, früher hat sie viel stärker noch die Wissenschaftsseiten des Feuilleton bereichert, das heisst, die Wissenschaftler werden heute in ihrer Expertenfunktion sehr viel stärker gebraucht, um innerhalb von Beiträgen kurze Quotes zu machen.

Wie wählen Sie jetzt aus, wem sie ein Medieninterview geben und wem nicht?

Primär ob die Fragestellung interessant ist. Ausserdem gibt es innerhalb der Medien Formate, die so schlecht sind, dass ich sie vermeide. In die Arena gehe ich sehr, sehr widerstrebend, die Staatsbürgerrolle in resonanzreichen politischen Formaten ist schwieriger, reputationsgefährdender und mit Ängsten verbunden.

Welche Ängste meinen sie da?

Das sind die Ängste, die man immer hat, wenn die Aufmerksamkeit auf die eigene Person konzentriert ist. Je grösser die Bühne, je grösser die Aufmerksamkeit, desto breitflächiger sind die Wirkungen der Fehler, die man macht in dieser Rolle. Wenn ich am Stammtisch politisieren würde, ist der Unsinn den ich erzähle, nicht so dramatisch.

Sie nutzen ihre etablierte Position als Soziologieprofessor also auch, um ihre persönliche Meinung einem breiten Publikum kundzutun?

Ich glaube nicht, dass die Funktionsrolle des Soziologieprofessors politisch nutzbar ist. Das möchte ich auch nicht tun. Als Staatsbürger hat man vor allem ideelle Interessen. Daraus ergibt sich dann die neue Spezies des Medienintellektuellen. Das ist ein Resultat der Intellektuellensoziologie, ein altes Teilfach der Soziologie, es betrachtet, wie weit und unter welchen Bedingungen Gesellschaften Orientierungsbedürfnisse haben und unter welchen Bedingungen es solche Figuren wie Intellektuelle gibt, die zu einer Sachverhaltsfeststellung normative Stellungnahmen abgeben und subjektive Betroffenheit zur Geltung bringen. Im Unterschied zum klassischen Intellektuellen sind Medienintellektuelle weitgehend ein Produkt medialer Nachfrage.