Daniela und Eva bei einer Studentenverbindung. PD

Von Bier, Gesängen und roten Hüten

Wenn das Bier zur Blume wird und weibliche Burschen bezahlen. Einblicke in einen fidelen Abend mit der Studentenverbindung «Welfen».

21. Oktober 2009

Ich stehe auf einem Stuhl und blicke über rote Hütchen hinweg. Fröhliche Gesichter schauen mir erwartungsvoll entgegen. Sie warten darauf, dass ich mich vorstelle. Was soll ich sagen? Unbehaglich stehe ich da. Niemand weiss, dass wir nicht aus ernstem Interesse hier sind. Für die ZS verbringen Daniela und ich einen Abend mit den Welfen und tun so, als wären wir Interessenten. Die Spielregeln: Daniela trinkt, ich behalte einen klaren Kopf.

«Silencium!» ruft der Senior, darauf folgt der weibliche Fuxmajor mit «im Stall» und schliesslich die ganze Meute mit «herrscht!». Eva und ich werfen uns fragende Blicke zu. Das Wort wird einem Altherrn übergeben. Er soll den Interessenten einen Einblick in die Studentenverbindung geben. Ich schnappe nur Bruchstücke seiner Rede auf, lieber beobachte ich das Geschehen. Auf ein stilles Kommando legen die Zuhörer ihre Hüte ab. Schnell wird mir klar, dass hier ungeschriebene Regeln gelten. Fasziniert greife ich nach meinem Bier, das im frischen Zustand Blume genannt wird, mittlerweilen jedoch zum Zutrunk wurde, da ich es so zu sagen entjungfert habe. Kurz vor meiner Lippe halte ich inne – darf ich Bier trinken, wenn jemand eine Rede hält? Unsicher stelle ich es zurück, denn ich will nicht schon so früh am Abend negativ auffallen. Hier weiss man schliesslich nie, was man darf und was nicht.

Unsere Sitznachbarn stellen sich vor. Etwas irritiert hören wir uns ihre Namen an – alles erfundene, sogenannte Vulgos, mit denen sie sich innerhalb der Verbindung ansprechen. Und da kommt auch schon die Fuxmajorin, begrüsst uns und nimmt die Bestellung entgegen: Für Daniela gibts Bier, für mich Wasser. Nach einem erneuten «Silencium im Stall herrscht» erhebt sich der Senior aus seinem thronartigen Stuhl und wir «steigen zum Cantus». Die meisten können die Lieder auswendig, wir spicken im Liederbuch. Ich bin total verwirrt, weiss nicht wie ich mich verhalten soll. Ich komme mir vor wie eine Reformierte an einer Firmung. Wir singen französisch und ich verstehe kein Wort. Hilflos suche ich Danielas Blick, doch sie bemerkt mich nicht und singt frischfröhlich weiter.

Je mehr ich trinke, desto wohler fühle ich mich hier. Ich lache über die Rituale, singe lauthals mit und beginne meinen Spass zu haben. Ungeniert geh ich auf Gespräche ein. Ich erfahre, dass man zur Beichte muss, um Fux zu werden. Dort wird man zum Trinken animiert, muss Fragen zu seiner Person beantworten und bekommt aufgrund der Antworten einen passenden Vulgo. Nach zwei Jahren Fux-Dasein kann man eine schriftliche Prüfung ablegen, um den Burschentitel zu erhalten. In meinem Zustand versuche ich, den Unterschied aufs Wesentliche zu reduzieren: Der Fux trinkt gratis, muss aber bedienen – der Bursche bezahlt und wird dafür bedient. Im Gespräch gesteht mir der Senior, dass er sich am Anfang zwei Jahre lang geweigert habe, seine Mütze zu tragen. Auch eine andere Füxin versteht unsere Irritation über die seltsamen Verhaltensweisen. Das beruhigt mich. So komisch sind die Leute hier also gar nicht.

Nach dem Lied und dem obligaten «danke für den wohlerklungenen Cantus, Colloquium» des Seniors kommen alle Mitglieder bei uns vorbei und begrüssen uns. Die Angst nichts zu verstehen schwindet schnell. Als ich erwähne, dass ich Holländerin bin und kein Schweizerdeutsch verstehe, wechseln alle ins Deutsche. Wir werden unterbrochen durch einen erneuten Aufruf des Seniors still zu sein. Der Rundgesang! Ein grosser Stiefel gefüllt mit Bier wird herumgegeben. Jeder, der ihn erhält, muss solange trinken, bis die anderen sein Lieblingslied fertig gesungen haben. Wichtig ist, den Stiefel immer abzuklopfen, bevor man ihn weitergibt und erhält. Und auf keinen Fall darf er während dem Rundgesang abgestellt werden! Wenn man die Regeln nicht befolgt, verliert man die Bierehre, was auch immer das heissen soll.

Ich erwartete einen Haufen traditionsbewusster, konservativer Nerds, die keine Freunde haben, gerne Latein sprechen und sich aus ihrem tristen Alltag wegsaufen. Wer nennt Bier schon «Blume», wenn er die Realität nicht zwanghaft verschönern will? Und wer sagt «Cantus steigt», um ein Lied anzustimmen, wenn er nicht in der Vergangenheit lebt? Obschon ich im ersten Moment Eva gedanklich überschwänglich dankte, dass ich diejenige von uns zweien bin, die sich betrinken darf, muss ich mir nun eingestehen, dass der Abend meine Erwartungen übertroffen hat. Mit der verschwommenen Erinnerung an viel Bier, gute Lacher und ungezwungene Gespräche mit normalen Studierenden verlasse ich die Verbindung. Doch was bleibt, wenn man nichts trinkt? Die Antwort bekomme ich von Eva.

Im Gegensatz zu Daniela fühlte ich mich den ganzen Abend als Beobachterin. Ich stand an der Seitenlinie und schaute dem Spiel zu. Nüchtern wirkt das alles seltsam und ich konnte mich nicht darauf einlassen. Trotz den verschiedenen Ausgangssituationen sind wir uns einig: Obwohl die Leute ganz normal scheinen und sehr sympathisch sind, kommt für uns ein zweiter Besuch höchstens in Frage, um nochmals Hallo und definitiv Tschüss zu sagen. Denn um diese Traditionen spassig zu finden, müssten wir beide so viel trinken, wie wir es uns jeden Dienstag nicht erlauben könnten.