Wer bekommt den lebenswichtigen Teil? Philip Schaufelberger

Zu wenig Herz

Organtransplantationen bei Neugeborenen? Ein heikles Thema. Insbesondere wenn die Eltern über Leben und Tod ihrer Kinder entscheiden müssen.

14. September 2009

Eine Mutter bringt eineiige Zwillinge zur Welt. Das eine Kind hat einen schlimmen Herzfehler. Es wird innert kürzester Zeit sterben. Das Brüderchen hat ein gesundes Herz, ist aber geistig und körperlich schwer behindert und hat eine maximale Lebenserwartung von sechs Jahren. Soll man das eine Kind töten um das andere zu retten? Viele Fachleute aus den Bereichen Medizin, Ethik und Recht wollen keine Stellung zu dieser Frage beziehen. Zu schwer lastet die Verantwortung für den Tod des einen Kindes oder für die Sterbehilfe beim anderen Kind. Klar ist: Mindestens eines wird sterben.

Medizin im Dilemma

Für Medizinstudent Ricardo ist die Antwort zwiespältig, zumal er selber eine Zwillingsschwester hat. «Medizinisch gesehen müssten natürlich viele Faktoren für eine Herztransplantation übereinstimmen. Es gibt keinen 100 Prozent idealen Spender. Obwohl man annehmen kann, dass der eineiige Zwilling sich dafür besonders gut eigenen würde.» Weshalb schrecken die Ärzte zurück? Ricardo differenziert zwischen Medizin und Ethik: «Medizinisch wäre eine solche Transplantation schon möglich, aber ethisch gesehen nicht. Man kann doch das Kind nicht einfach töten. Auch nicht wenn es nur eine kurze Lebenserwartung hat.» Die Medizin kann sich immer irren. «Es könnte auch sein, dass das Kind 20 Jahre alt oder älter wird. In diesem Fall haben wir vor allem ein Zeitproblem. Solange beide leben, muss man beide leben lassen,» weiss Ricardo. Rechtlich gesehen sind den Ärzten die Hände gebunden. Sie dürfen nur beratend zur Seite stehen. Sie können niemandem eine Operation aufzwingen. Die Entscheidung treffen letztlich die Eltern.

Keine Gewissensbisse

Gerade deswegen wäre es für Ricardo kein Problem, das Herz seiner Zwillingsschwester in sich zu tragen. «Ich hätte ja diese Entscheidung nicht selbst getroffen.» Als Arzt wäre er mit einer solchen Frage aber überfordert. Er wird zwar in der Psychosozialmedizin ausgebildet, aber die Entscheidungen zu den Fällen bleiben immer offen. Es werden nur theoretische Überlegungen gemacht. «Ich würde mich mit Experten aus den Bereichen Recht, Ethik, Medizin und mit den Eltern der Kinder beraten. Meine Pflicht als Mediziner ist es, das Wohl jedes Patienten zu garantieren und keinem zu schaden.» Das ist angesichts der Komplikationen, die während und nach einer Operation auftreten können, sehr schwierig. Gerade bei Kleinkindern ist eine Herztransplantation sehr risikoreich. Im Durchschnitt sterben 5 Prozent innerhalb der ersten vier Wochen nach der Operation.

Wer wagt eine Antwort?

Einen Professor zu finden, der bereit ist zu einem heiklen Thema Stellung zu beziehen, ist schwierig. Entweder möchten sie nicht in den Medien erscheinen, oder finden, so etwas gehöre nicht in ihr «Spezialgebiet» obwohl sie Ethik oder Recht zu ihrem Beruf gemacht haben. Eine Ausnahme ist Roberto Adorno aus dem Institut für Biomedizinische Ethik. Er fackelt nicht lange. «Dieser Fall ist klar! Das Grundprinzip lautet, dass man einen Menschen nicht töten darf. Also darf das gesunde Herz auf keinen Fall entnommen werden. Es spielt keine Rolle, ob sie Geschwister sind. Das ist in allen zivilisierten Ländern so. Nur weil ein Mensch bald stirbt bedeutet dies nicht, dass er keinen Wert hat. Man muss beide Kinder individuell medizinisch versorgen. Sowohl geistig als auch körperlich.» Adornos Sichtweise ist jedoch nicht die einzig mögliche in der Biomedizinethik. Im Gegensatz zu ihm geht beispielsweise der Utilitarismus, eine Bewegung der bioethischen Herangehensweisen, von einer ganz anderen Maxime aus. Sein Ziel ist es, den grössten Nutzen für eine maximale Anzahl von Menschen zu erreichen. So wäre auch die Tötung eines Menschen für die Organentnahme gerechtfertigt, wenn man annähme, der behinderte Zwilling würde eine Belastung darstellen. Diese Maxime ist rechtlich betrachtet nicht vertretbar. Denn die Biomedizinkonvention des Europarats schreibt ganz klar vor: «Das Interesse und das Wohl des menschlichen Lebewesens hat Vorrang gegenüber dem Interesse der Gesellschaft oder der Wissenschaft.»

Kein Mensch ohne Würde

In unserer Gesellschaft ist es nicht nur ethisch verwerflich, dem Kind das Herz zu entnehmen, sondern auch rechtlich verboten. Schon im ersten Artikel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Recht geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» Das bestätigt auch Dr. Adorno: «Es gibt keinen Menschen ohne Würde. Man darf nicht in die Würde eines Menschen eingreifen. Auch nicht, wenn das Kind behindert ist.» Adorno blickt für seine Erklärung zurück in die Vergangenheit. «Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wichtige Gesetze verfasst. Denn zur Nazizeit wurden oft Experimente mit geistig kranken Menschen gemacht. Kinder wurden nicht verschont. Man sagte einfach, diese Menschen hätten keinen Wert. So zu denken ist absolut verwerflich.» Sein Vorgehen, um diese heikle Frage zu beantworten, ist ähnlich wie bei Ricardo. «Meine ersten Schritte in einem solchen hypothetischen Fall wären folgende: Als erstes würde ich versuchen, die medizinischen Fakten zu verstehen. Danach bevorzuge ich persönlich etwas Intuitives, denn gemäss den Büchern ist der Fall klar. Auch die Theologen könnte man um Rat fragen. Für den herzkranken Zwilling müsste ein Spenderherz gefunden werden. Nirgends auf der Welt gibt es die Möglichkeit, dem behinderten Zwilling das Herz zu entnehmen, solange er noch lebt.» Die einzige Lösung, die aus ethischer, rechtlicher und medizinischer Sicht möglich ist, wäre ein mechanisches Herz, das dem Kind eingepflanzt wird und es solange am Leben hält, bis ein passendes Spenderherz gefunden ist. Ansonsten gibt es an diesem Fall nichts zu rütteln: Beide Herzen bleiben im Brustkorb ihres jeweiligen Besitzers. Auch wenn das bedeutet, dass beide Kinder sterben müssen.