Zürich kann für manche Studierende ein Kulturschock sein. Tomas Fryscak

Kulturschock bei der Ankunft

Vielen Studierenden aus anderen Kantonen fällt der Start in Zürich schwer. Die Grossstadt ist hektisch, laut und unfreundlich.

14. September 2009

Die Frage ist nicht, woher du kommst, sondern wohin du gehst! Oder in unserem Fall, was du studierst. Dein Auftrag ist klar: Das Studium erfolgreich absolvieren. Das wäre kein Problem, wäre da nicht diese Stadt, dein neues Leben und all die fremden Menschen. Falls du zu den wenigen Zürcher Studierenden gehörst, darfst du dich glücklich schätzen. Du wirst nie das Gefühl des Zubetoniertseins erleben. Du wirst nie am Bellevue stehen und beim Blick in die Glarner Berge Heimweh bekommen. Die Anonymität wird dir nie als unbezwingbarer Moloch ihren Rachen entgegen gähnen. Du gehörst nicht zu den rund 22’000 Studierenden, die ihre Heimat verlassen haben, um hier in Zürich einen Neuanfang zu wagen. Wenn doch, und du zu den älteren Semestern gehörst, sind die Vorlesungen nicht deine grösste Herausforderung gewesen. Nein, du musstest dich an ein völlig neues Leben gewöhnen, neue Freunde suchen, dich beim Kreisbüro melden und eine Stadtkarte kaufen. Falls dies dein erstes Semester sein wird und du vom Tessin (ich hoffe du verstehst meine Sprache), dem Bündnerland, der Innerschweiz oder sonst einem Flecken unseres Landes kommst, so wirst du die hier beschriebenen Erfahrungen noch machen dürfen.

Alice im Wunderland

Die allermeisten von uns erleben etwas Ähnliches wie Alice, wenn sie in Zürich ihr Studium in Angriff nehmen. Die Administration wirkt absurd, weil die nötigen Informationen wie ein grosses Mysterium über der Uni schweben. Du findest die Kanzlei nicht, verpasst den Pendelbus zum Irchel, und wenn du mal aufs Klo musst, ist es bestimmt geschlossen, weil gerade geputzt wird. Irgendwie ist die Universität gegen dich und du kannst keinen um Hilfe bitten, weil du noch niemanden kennst. Frustriert machst du dich auf den Heimweg durch die fremde Stadt. Falls du aus Glarus kommst, wirst du das Gefühl haben, durch eine überdimensionale Disco zu fahren. Bei euch im beschaulichen Glarnerland kennt man ja keine Lichtsignale auf den Strassen. Innerschweizer leiden an akuter Reizüberflutung. Die Stadt ist laut, stinkig, hektisch und je nach Jahreszeit viel zu heiss oder zu kalt und grau. So das traurige Fazit derer, die sich vom Land in die «Grossstadt» wagen. Auch dir wird schnell klar, Zürich ist kein Ponyhof.

Schon nach den ersten Tagen wünschst du dich in deine Heimat zurück, doch bis Freitag gilt es durchzuhalten. Du würdest gerne auf ein Bier gehen, aber in welche Kneipe? Wo gibt es dein Calanda, dein Ittinger, dein Einsiedler?

Das ewige Hin und Her

Der neue Lebensentwurf ist nicht das, was du dir erhofft hast. Ulrich Frischknecht von der psychologischen Beratungsstelle der Uni und ETH weiss, dass es Wochenaufenthalter oft viel schwerer haben, sich ein soziales Umfeld aufzubauen. Sie verbringen das Wochenende im Heimatort. «Im Extremfall führt diese Art Pendeln zu einer inneren Zerrissenheit.» Dieses Szenario musste die Kunstgeschichtsstudentin Michelle erleben. «Wenn ich eine Woche nicht im Glarus war, hab ich eine Krise geschoben, das ging gar nicht.» Ähnliches erzählt Julia: «Ich ging im ersten Jahr sehr oft nach Hause ins Rheintal. Das hat mir irgendwann nicht mehr gut getan. Ich war nirgends richtig daheim. Irgendwann musste ich mich für eine Ortschaft entscheiden.»

Kommst du aus dem Tessin, so kämpfst du mit ganz anderen Schwierigkeiten. Vermutlich sind dir die Erfahrungen von Paolo und Liliana vertraut: «In den ersten Wochen verstehst du überhaupt nichts, hängst am Wörterbuch und fragst dich, ob du das Studium jemals schaffst.» Die beiden versichern aber: «Tessiner sind sehr offen, sonst könnten wir die Sprachbarriere nicht überwinden.» Trotzdem haben die Tessiner Mühe, deutschsprachige Studienkollegen zu finden. Das liegt vor allem an der deutschsprachigen Studierendenschaft. Diese ziert sich ungemein, Fremdsprachige in ihren Kreis zu lassen. Wenn du aus den Wirtschafts- und Jus-Gefilden kommst, ist dir dieses Verhalten bestens bekannt. Bei deiner Eigenbrötlerfraktion haben es sogar wir Mundart-Sprechenden schwer, wenn wir euren Kleider- und Verhaltenskodex ignorieren.

Liebe Tessiner, so wie euch geht es auch den Bündnern. Nicht nur, dass sie besagten Kodex verachten. Nein, auch sie fahren freitags mit dem Gleis 7 nach Hause. Viereinhalb Stunden Heimweg nehmen sie dafür in Kauf. «Wir jassen oft. Irgendwer hat auch immer Bier dabei. Das ist wie Ausgehen im Zug,» berichtet Luca, der aus einem 150-Seelen-Dorf bei Samedan stammt.

Pilgerst du jeden Sonntag aus dem Bündnerland wieder nach Zürich, so erlebst du bestimmt regelmässig einen Kulturschock. «Hier sind alle so krass modebewusst, extrem ehrgeizig und irgendwie quatschen in Zürich alle so viel. Das ist eine richtige Small-Talk-Kultur.» Luca will sich von diesem Verhalten nicht unterjochen lassen. «Es gibt so ein tussiges Verhalten und alle sind total aufgestylt. Davon möchte ich mich abgrenzen. Ich will bewusst anders sein.» Ob dies der Grund ist, weshalb viele Studies ihren Bündner Kommilitonen einen Dickschädel und Sturheit nachsagen? Böse Zungen sprechen gar von «Bündner-Mafia» und «Herdentieren», wenn sie den Bündnerclub umschreiben.

Ganz so einfach ist es nicht. Denn Nidwaldner, St. Galler, Glarner und Schwyzer berichten über ähnliches Unbehagen wie die Bündner. Immer wieder macht ihnen die Anonymität zu schaffen. Franziska aus Nidwalden kennt das spezifische Zürcher Verhalten. «Hier schauen einem die Leute dumm an, wenn man sie auf der Strasse grüsst und nicht kennt. Man hat in Zürich immer das Gefühl, die Leute müssen nach aussen einen Schein wahren und perfekt wirken.» Und was meint Luca? «Wenn man in der Migros keinen Trenner hinter seine Sachen legt, flippen die Leute schon aus und wehe man spricht mit dem Kassierer. Hier ist alles einfach viel anonymer.»

Wir sollten uns bewusst machen, dass Zürcher Studierende ihre zermürbende Anonymität lieben. So wie die Stadtzürcher Architekturstudentin Luana: «Ich könnte nicht in einem kleinen Dörfli leben. Ich mag diese Anonymität. Man kann sich freier bewegen, ohne dass am nächsten Tag alle tratschen.» Wie es in den Bündner Bergen zu und her geht, glauben die Zürcher auch zu wissen. «Die Bündner, die kennen doch manchmal nur die Leute aus ihrem Tal und haben ihre Freunde von dort und bleiben ein Leben lang im Tal. Es ist wie wenn alles vorbestimmt wäre», stellt sich Luana vor. Tatsächlich findet sich in unserem intellektuellen Elfenbeinturm ein Sammelsurium solcher Kulturvorstellungen. Unser Heimatort prägt uns letztlich viel mehr, als wir wahrhaben wollen. Wir sollten uns deshalb fragen, was die Uni oder ETH bieten kann, damit wir uns in unserer Wahlheimat wohler fühlen.

Du lebst, wie du studierst

Jeder von uns bekommt mit dem Studiumsbeginn eine neue Chance. Zumindest wünschen wir das alle. Unsere Pläne und Erwartungen greifen nicht selten ins Leere. Fakt ist, wer als Kind und Jugendlicher keine Sozialkompetenz hatte, der wird an der Uni oder ETH nicht plötzlich zum Universalfreund. Für manche von uns wird die soziale Isolation und die Trennung von unserer Heimat unhaltbar und führt zum Abbruch des Studiums. Nur wenige Studierende wagen den Schritt und suchen Hilfe bei der Psychologischen Beratungsstelle. Dies bedauert deren Leiter Ulrich Frischknecht.

Was kein Studienanfänger wissen kann, ist, dass es eine waghalsige Lösung gäbe. In dieser Stadt gibt es schliesslich nicht nur die Uni und ETH Zentrum. Wer auf dem Hönggerberg, am Irchel oder in irgendeinem versteckten Winkel Zürichs sein Studium absolviert, der bewegt sich in einem jeweils völlig anderen Kosmos. Was der Zürcher empfindet, wenn er ins Bündnerland reist, empfinden Studierende vom Zentrum, wenn sie am Hönggerberg gastieren. Das Prinzip der Kantone lässt sich auf unsere verschiedenen Studiengänge übertragen. Ein Architekturstudierender vom Hönggerberg lebt so gesehen in Klein-Graubünden, während das Institut für Kunstgeschichte, an dem auch Michelle studiert, sowas wie Klein-Glarus ist. Willst du also die Eigenheiten deiner Heimat nicht missen, solltest du dein Studium nach dem Standort wählen. Zum Beispiel ist besagter Studiengang Architektur härteste Knochenarbeit. Du krüppelst dort wie ein Bündner Bergbauer und der Klassenzusammenhalt ist so eng wie derjenige eines Bündner Bergdorfes. Jeder kennt jeden und zwar bis auf die Unterhose. Dagegen ist das Mittellateinische Seminar klein und beschaulich. Etwa so wie die einzige Kanti in Nidwalden. Auch da kennt jeder jeden, aber man rückt sich nicht dermassen auf die Pelle.

Bist du jemand, der wenig von Körperpflege hält oder kein Modebewusstsein hat, so ist der Hönggerberg genau das richtige für dich. Das bestätigt auch Luca: «Die Leute hier sind gestresst, ungepflegt, so typisch aus einer anderen Welt.» Luana dagegen bedauert die Abgeschiedenheit auf dem Hönggerberg: «Man kann nicht mal einen Kaffee trinken gehen und die einzige Mensa schliesst um 4 Uhr.» Der Bauernhof neben der ETH ist genau das Richtige für Landeier. Er bietet nicht nur Milch zum selber zapfen, sondern in regelmässigen Abständen versprüht er auch das beliebte Güllenaroma in die Atmosphäre.

Wer nicht radikal abseits studieren möchte, einen gesunden Sozialkontakt zu pflegen wünscht und doch eine gewisse Anonymität schätzt, sollte es mit dem Irchel versuchen. Studiengänge wie Biologie oder Veterinärmedizin bieten zahlreiche Gruppenarbeiten, die Kontaktaufnahme garantieren, aber nicht auf fünf Jahre erzwingen wie etwa bei den Architekten. Der goldige Irchelpark ist Ausgangspunkt für wilde Grillpartys oder aber Rückzugsort für gestresste Studierende. Die Stadt ist gut erreichbar, also klappts hier auch mit dem Kaffee.

Falls du ein Modejunkie bist, der dies mit Freuden zelebriert oder einfach die Anonymität liebst, so bist du an der Uni-Zentrum genau richtig. Haufenweise Studiengänge, die keinerlei Sozialkompetenz verlangen, sind hier untergebracht. Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist ein Referat mit einem «Seminargschpänli». Den Vorlesungssaal teilst du je nach Studiengang mit 500 bis 700 Leuten. Gerade Politologie, Wirtschaft oder Jurisprudenz sind auf diesem Gebiet Spitzenreiter. Wer sein Geld gerne zur Schau stellt, sollte sich zwischen letzteren zwei entscheiden. Gehörst du zu den vielen, die mit Geld und Mode nichts anfangen können und sich dennoch in das famose Treiben dieser Stadt stürzen wollen? Dann ist Germanistik oder Geschichte genau das Richtige für dich. Sie sind ebenfalls an der Uni Zentrum stationiert. Hier ist der so genannte Meltingpot, ideales Territorium für Studierende der Populären Kulturen. Hier finden sie Stoff für all die Mythen über Bündner, Tessiner, Glarner, St. Galler, Berner und nicht zu vergessen die ewigen Feinde aus Basel. Übrigens, wer das Pendeln vermisst oder das Leben mühsam liebt, der studiert Psychologie oder Publizistik. So bist du gezwungen, öfters mal in Oerlikon vorbeizuschauen. Der Pendelbus vom Zentrum hält sich an die obligaten Pendlerverspätungen und fährt zudem genau zu den falschen Zeiten. Wer muss da noch von ausserhalb nach Zürich pendeln?

Licht am Ende des Tunnels

Auch wenn dir das Studium von Zeit zu Zeit wie eine Odyssee erscheint, so kann ich dir garantieren, du wirst dich daran gewöhnen. Mit der Zeit wirst du es schätzen lernen und mit etwas Glück wirst du eine Hassliebe zu deinem Studium in Zürich entwickeln.

Dies ist das Fazit aus all den Interviews, die für diesen Text mit Leuten aus allen Ecken der Schweiz und Zürich geführt wurden. Den meisten von ihnen hat Zürich nichts geschenkt, sie mussten sich diese Stadt verdienen. Sie mussten mit all den kleineren und grösseren Problemen kämpfen und sie sind sich alle einig: Zürich bietet eine geniale kulturelle Vielfalt, die Stadt ist ein Schmelztiegel von Ethnien und du kannst jederzeit alles haben. Diese Stadt garantiert ein schnelles und abenteuerliches Leben und sie hat für jeden ein geeignetes Plätzchen. Bevor wir ein Studium beginnen, das wir eigentlich gar nicht wollen, möge sich unsere Alma Mater diese Stadt zum Vorbild nehmen.