Manser findet keinen Dozierenden, der ihre Arbeit annehmen könnte. Samuel Nussbaum

Die unendliche Geschichte

Tausende Jungspunde stolpern in diesen Tagen durch die Uni. Brigitte Manser* ist im 65. Semester. Die Chronik einer verschleppten Lizarbeit.

14. September 2009

Eigentlich lief im Studium von Brigitte Manser ja alles nach Plan. Bis ihr Koffer 1983 auf einem Bahnsteig in Lima gestohlen wurde. Im Gepäckstück befanden sich die Aufzeichnungen ihrer Feldforschung. Das war ungefähr im elften Semester, der Abschluss schien in greifbarer Nähe. Ab da lief nichts mehr. Die Jahre flogen dahin.

Mittlerweile ist Brigitte Manser im 65. Semester. Sie sitzt im Lichthof, den sie vor vier Jahren zum letzten Mal von innen gesehen hat. «Das letzte Mal war ich vor zwei Wochen in der Uni. Ich validierte meine Legi», sagt die zierliche 60-jährige mit unpenetrantem Walliserdialekt. Die letzte Lehrveranstaltung hat sie vor über 20 Jahren besucht. Die Erstsemestrigen vom Herbstsemester 2009 könnten ihre Kinder sein. Und ihr erster Lizprofessor liegt schon im Grab.

Wie es zu den 65 Semestern gekommen ist, kann Brigitte Manser nicht ganz schlüssig erklären. Aber es gibt einige Anhaltspunkte. «Ich bin eine Person, die sich schnell verzettelt», sagt sie. Wenn sie ein Thema packe, dann nehme sie keine Rücksicht auf den Aufwand. Manser grinst. «Ich habe eine epische Arbeitsweise.»

Nicht geboren zur Sekretärin

Schuld sind aber auch äussere Umstände. Manser wuchs im Unterwallis auf und machte das KV. Dann verkrachte sie sich mit den Eltern. Sie entschied sich, eine Übersetzerschule zu absolvieren. Mit dem erfolgreichen Abschluss im Sack kam sie aber nicht über eine Stelle als Sekretärin mit Fremdsprachenkenntnissen hinaus. «Ein Leben als Sekretärin – das konnte ich mir nicht vorstellen!» Also drückte sie erneut die Schulbank und machte die Erwachsenenmatur. Im Herbstsemester 1977 immatrikulierte sie sich für Geschichte, Ethnologie und Politologie. Um ihr Studium zu finanzieren und den Anschluss an die Arbeitswelt nicht zu verlieren, arbeitete sie immer mindestens fünfzig Prozent. Ihre Nebenjobs: Modell stehen für die Kunsthochschule, Sekretärin oder Übersetzerin.

1982 ging Manser für eine siebenmonatige Feldforschung nach Peru. Am Ende dieser Reise stand sie ohne ihren Koffer da. Sie war fix und fertig. «Dank einem Bekannten beim Fernsehen lief während einer beliebten Quizshow in einer Schleife mein Aufruf, mir die Unterlagen im Koffer gegen Finderlohn abzugeben», erinnert sich Manser. Sie lächelt. «Es kam natürlich nichts zurück.»

Finstere Bürokraten

Manser beschloss, ihre Abschlussarbeit in Geschichte über die Schweizer Auswanderer nach Peru zu machen. Und zwar gründlich. «Fünf mal reiste ich von 1985-1996 nach Peru, um in den Archiven nach Quellen zu suchen», sagt Manser. Doch die Archivare dort waren finstere Bürokraten. Manser brauchte Empfehlungsschreiben, um Zugang zu den Archiven zu bekommen. Sonst hätte sie schmieren müssen. Die Bibliothekarin des Nationalarchivs habe sie besonders auf dem Kieker gehabt. «Sie schloss tageweise einfach das Archiv, weil sie angeblich einen Zahnarzttermin hatte», weiss Manser noch. Schliesslich verbündete sie sich mit den untergebenen Bibliothekaren, die ihrerseits die Chefin auf dem Kieker hatten und kam so zu ihrem Material.

Über die Zustände im Archiv ist Brigitte Manser noch heute entsetzt: «Es herrschte das reinste Chaos». Sie musste stapelweise Papier abschreiben, weil ein Kopiergerät fehlte. «Es war alles so zeitraubend», sagt sie. Und kaum sei sie zuhause gewesen, sei wieder die Arbeit dazwischengekommen. Keine Chance, an der Arbeit zu schreiben. Seit 2002 schläft das Liz-Fragment in der Schublade.

Von der Liste gestrichen

Es fällt Brigitte Manser schwer zu akzeptieren, dass vielleicht die ganze Mühe für nichts war: «Ich habe soviel Zeit und Geld investiert!», sagt sie. Sie hätte genug Material, um eine Doktorarbeit zu schreiben. Ihr Problem: Sie findet keinen Dozierenden, der die Arbeit annehmen könnte. Der inzwischen zweite Lizprofessor hat sie von der Lizentiandenliste gestrichen. Manser wirkt etwas deprimiert. Doch die Begeisterung fürs Studium ist noch da. Sie schwärmt von den Aufzeichnungen, die sie in den peruanischen Archiven aufgespürt hat. In Mansers Augen blitzt es auf: «Ich habe fest vor, noch abzuschliessen. Deshalb schreibe ich mich auch immer noch an der Uni ein.»

Die Bezeichnung «ewige Studentin» lässt Manser nicht auf sich sitzen: «Ich beanspruche die Infrastruktur kaum und arbeite viel». Noch nie sei ihr jemand wegen der hohen Semesterzahl blöd gekommen. Nur ihre Freunde raten ihr ständig, endlich hinzuschmeissen. «Das trifft mich hart und verletzt mich sogar.» Brigitte Manser hängt sich ihr Mäntelchen um und verlässt den Lichthof. Wann wird sie wohl wiederkommen?

*Name der Redaktion bekannt

Manche haben länger

Auch bei den «ewigen Studierenden» gilt: Der Mythos ist mächtiger als die Wahrheit. Es gibt sie, aber nicht in Scharen. Die Uni hat für die ZS in die Statistik geschaut. Das ist herausgekommen: Es gibt zurzeit 184 Studierende, die über 30 Semester auf dem Buckel haben (153 Phil, 9 MnF, 6 RWW, 2 Theol, 2 WWF, 1 Zahnmedizin). 28 studieren seit über 50 Semestern (23 Phil, 3 MNF, 1 RWW). Der König der ewigen Studenten ist aber kein Phil-1er, sondern Jus-Studierender: Er gewinnt mit 83 Semestern. Als er sich einschrieb, war der Mond noch Neuland und Woodstock irgendeine Kuhwiese in den USA.