Statt einer lüsternen Sprache bedienten sich Kleriker einer komplexen Metaphorik. tobiasnussbaumer@hotmail.com

Was ist eigentlich Liebe?

Die Frage nach ihr ist so alt wie die Menschheit selbst. Wer ihre Spuren verfolgt, entdeckt mehr als Amorpfeile und Hormone.

4. Mai 2009

Möglicherweise handelt es sich um ein irrwitziges Vorhaben, dem Geheimnis der Liebe auf die Schliche zu kommen. Und doch, durch alle Zeiten und in beinahe jeder wissenschaftlichen Disziplin suchte der Mensch nach dem Schlüssel für den siebten Himmel. Bis heute blieb die Liebe jedoch, zum Leidwesen vieler liebeshungriger Menschen, ein Mysterium. Niemand kann sagen, wie und warum sie entsteht. Wer es trotzdem wagt und sich an der Universität Zürich nach Amor et al. erkundigt, braucht nebst einem Faustschen Wissensdurst viel Durchhaltevermögen. Ich zumindest musste merken, dass erst die Verbindung der einzelnen Wissensbereiche zu wirklich spannenden Erkenntnissen führt. Das Resultat meiner Recherche: das neue erfundene, interdisziplinäre Fach der Liebeswissenschaften, beziehungsweise Erotizistik.

Das Fach Erotizistik setzt sich in seiner Anfangsphase aus den Teilgebieten Mediävistik, Populäre Literaturen und Medien, Geschichte, Psychologie und Wirtschaft zusammen. Der Grund für die etwas sonderbar wirkende Konstellation liegt bei den Dozierenden. Sie alle bewiesen Pioniergeist innerhalb der Erotizistik und offenbarten mir ihre Forschungsergebnisse. So entdeckte ich zwei Wege, die Liebe zu erforschen. Entweder stürze ich mich in das Feld der leidenschaftliche Liebe zwischen zwei Menschen, wie es einzig die Psychologie wagt, oder ich untersuche die Liebe als wandelbares Phänomen, wie es in den übrigen Disziplinen der Fall ist. Tatsächlich versteht es die Liebe, sich mit dem Menschen zu entwickeln. Sie wurde im Verlauf der Geschichte erwachsen. Meine Forschungsreise beginnt im Mittelalter oder im Zimmer 215 des Deutschen Seminars.

«Sexheftli» im Mittelalter

Die Mediävistin Mireille Schnyder erzählt mir: «Gerade die Kleriker lasen und schrieben zum Zeitvertreib erotische Literatur. Auch Liebesbriefe zwischen Nonnen und Priestern waren keine Seltenheit.» Da es für die Kleriker aber nicht sehr schicklich gewesen sei, ihre lüsternen Gedanken kund zu tun, hätten sie sich einer komplexen Metaphorik bedient. Scheint, als hätte ich ins Schwarze getroffen. Mittels verschlüsselter Grammatik und Rhetorik trieben die Kleriker ein heisses Spiel mit dem Verbotenen. So schrieben sie beispielsweise davon, eine Frau zu «deklinieren» oder einen «Psalter zu lesen» , meinten aber «mit einer Frau schlafen». Hinter dieser Raffinesse des Intellekts verbirgt sich eine naturphilosophische Denktradition. Sie besagt, dass das Regelsystem für Grammatik, Rhetorik und Logik, also das Trivium der sieben freien Künste, auch auf die Liebe anwendbar sein muss. Das scheint mir doch ziemlich kompliziert. Ein kurzes Beispiel soll helfen: «Wir bilden als Subjekt und Prädikat einen Satz» war gleichbedeutend mit «Wir gehören als Mann und Frau zusammen». Klingt einleuchtend. Trotzdem frage ich mich, was wohl unser Papst zu den geistreichen «Sexheftli» sagen würde.

Fische versprechen sich nicht die Ehe

Eine wegweisende Vorstellung des Mittelalters war die vollkommene Verbindung von Mann und Frau, die nur mit der Erfüllung der gesellschaftlich zugewiesenen Rolle einherging. Daraus entwickelte sich die arrangierte Ehe, wobei sich die Ehepartner oft erst während der Ehe ineinander verliebten. Welch ausgeklügelte Überlebensstrategie sich hinter diesem Habitus verbirgt, zeigt mir Philipp Sarasin, Historiker und Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Er greift dafür auf die Theorie von Darwin zurück, die da lautet: Der Mensch ist ein Schwächling und dessen ist er sich bewusst. Er würde als Einzelgänger jegliche Überlebenschance vertun. Deshalb bildet er Gemeinschaften. Damit diese intakt bleiben, müssen sich die einzelnen Gruppenmitglieder gegenseitig helfen und unterstützen. Was geschieht in den Menschen drin, damit sie sich bei Streit oder Nahrungsknappheit nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen? Sie entwickeln Liebe und Sympathie gegenüber jenen Artgenossen, die für sie einen Mehrwert haben. Kurzum liebt die Frau den Mann als Beschützer und Ernährer, während der Mann die Frau liebt, weil sie für ihn die einzige Chance auf Fortpflanzung ist. Eine höhere Stufe wäre dann die Dorfgemeinschaft oder der Slogan «einer für alle, alle für einen». Dieses Rudelverhalten gibt es auch bei Fischen. Gegenüber den Fischen haben wir aber ein weiteres Ass im Ärmel: die Sprache. Sie befähigt uns, über unser Verhalten zu reflektieren und auf einer weit höheren Ebene zu interagieren als ein Schwarm Sardinen. Der Mensch hat sich im Laufe der Evolution von der Instinktgetriebenheit emanzipiert und sich dadurch die Wahlfreiheit bezüglich seines Handelns erworben. Eine Gruppe von Menschen wird sich genau überlegen, was das Beste für die Gemeinschaft ist. Darum legten unsere Vorfahren allgemeingültige Gesetze fest, von denen einige so schöne Namen wie Eheverbot oder Eheversprechen tragen. Im Mittelalter steckte die Liebe so gesehen noch in den Kinderschuhen, weil sie kontrolliert und gelenkt wurde.

Macht «Liebe machen» verliebt?

Um die Theorie Darwins zu überprüfen, nehme ich einen Perspektivenwechsel vor. Seine Theorie beantwortet nicht die Frage, weshalb eine bestimmte Frau und ein bestimmter Mann sich ineinander verlieben. Die Psychologie hat dazu einige Antworten für mich. Guy Bodenmann, Professor für Klinische Psychologie, beschäftigt sich mit der Frage, wie Liebe entsteht. Er erklärt mir, dass man heute zumindest weiss, was im Körper abläuft, wenn jemand Liebe empfindet. Das Bindungshormon Ocytocin, im Volksmund auch bekannt als Kuschelhormon, spielt in dieser Beziehung eine wichtige Rolle. Unser Körper schüttet Ocytocin aus, sobald wir eine angenehme Berührung spüren oder «Liebe machen». Oxytocin bindet nicht nur zwei Menschen an einander, sondern wirkt auch stressmindernd und lässt unser Vertrauen in andere Menschen wachsen. Damit aber in unserem Bauch Schmetterlinge fliegen, braucht es auch das Glückshormon Endorphin und das männliche Testosteron. Dieser Cocktail kann uns verliebt machen. Auch die Priester im Mittelalter schütteten diese Hormone aus, wenn sie ihrer Lektüre frönten. Sie waren deswegen aber nicht verliebt. «Das Gleiche gilt für den Liebesakt», weiss Bodenmann, «Wir können mit zehn Menschen Sex haben, sind aber nicht in jeden verliebt.» Es braucht also mehr als eine Prise Ocytocin, Endorphine und Testosteron damit wir uns verlieben. «Der Quantensprung von der Sympathie zur Liebe bleibt ein Mysterium des menschlichen Gehirns». Wer wird denn gleich aufgeben, denke ich und frage weiter.

Heute schon geschnuppert?

Frau von Dawans, die sich mit Psychobiologie beschäftigt, bringt mich auf eine heisse Spur. Sexuelle Sympathie entsteht durch Schnuppern und hängt wesentlich vom Immunsystem des potentiellen Partners ab. Eine Frau wird aus einer Gruppe von zehn Männern eher jene als Partner wählen, die durch Körpergeruch ihrer weiblichen Nase mitteilen, dass deren männliches Immunsystem komplementär zu jenem der Frau ist. Das bietet dem gemeinsamen Nachwuchs die grösstmögliche Überlebenschance. Ich frage mich, was die Frau macht, wenn fünf der zehn Männer gut riechen. Das ist schnuppe! Genau wie Darwin und Herr Bodenmann weiss auch Frau von Dawans: «Kulturelle Aspekte wie die soziale Schicht, Bildung oder die bevorzugte Musikrichtung sind bei der Partnerwahl ebenso wichtig.» Die Frau wird aus den fünf duften Typen jenen wählen, mit dem sie ihren Humor teilen kann, der geistig auf gleichem Niveau ist und möglichst ähnliche Wertvorstellungen hat. Man nennt dies das homogame Liebesprinzip, wonach sich die Partner möglichst ähnlich sind. Dieses Prinzip einer homogamen Partnerschaft bildet eine Schnittstelle zwischen der leidenschaftlichen Liebe zweier Menschen und der Liebe, die sich immer wieder neu definiert. Im Mittelalter hatte die Homogamie mit Gefühlen herzlich wenig zu tun. Die Liebe suchte man auch in der Ehe oft vergeblich. Diese Institution diente vielmehr dazu, das soziale System einer Gemeinschaft zu sichern und zu schützen, beziehungsweise die Macht und Ländereien eines Reiches zu vergrössern. Arrangierte Ehen zogen sich durch alle Schichten bis zum Bauernstand. Ausnahmen fanden sich höchstens in höfischen Romanen, wo die Liebenden gegen kulturelle Wertesysteme ankämpfen mussten und kläglich scheiterten. Die Liebesheirat war im Mittelalter so gesehen eine Wunschvorstellung, die man über die Literatur auslebte.

Durch die Erkenntnisse aus der Psychologie und Geschichte lässt sich nun auch Darwins Theorie bestätigen. Ein Individuum im Mittelalter konnte allein nicht überleben. Es brauchte eine Gemeinschaft. Eine soziale Gruppe war dann am stabilsten, wenn jedes Mitglied seinen festen Platz hatte und seine individuellen Gefühle dem Wohl der Gruppe unterordnete. Während der industriellen Revolution im späten 19. Jh. änderte sich das radikal. Gerade für die ärmste Bevölkerungsschicht, die Fabrikarbeiter, erübrigten sich die ökonomischen Bedingungen einer Ehe. Sie lösten sich von einem festen Arbeitgeber und der Gemeinschaft. Das schuf erstmals den nötigen Freiraum für Gefühle. Aus der arrangierten Ehe entwickelte sich die Liebesheirat. Das homogame Partnerschaftsprinzip änderte seine Parameter. Innere Werte und Wertvorstellungen wurden zunehmend wichtiger. Mit anderen Worten: Die Liebe kam in ihre pubertäre Phase und liess sich nichts mehr gefallen von der Gesellschaft. Sie wurde selbstständig – genau wie die Menschen, die sich liebten. Und hier sind wir wieder bei Frau von Dawans angelangt. Schnuppern und ein bisschen Sex alleine ergeben noch keine Liebe, weil wir eine so grosse Wahlfreiheit bezüglich des Partners entwickelt haben.

Die Liebe löst sich vom ewigen Bund

Nie gab es so viele Möglichkeiten Miss oder Mister Right zu finden, und doch war die Scheidungsrate noch nie so hoch wie in den letzten zehn Jahren. Herr Bodenmann macht aus psychologischer Sicht Stress im Arbeitsalltag, Individualismus und den Drang zur Selbstverwirklichung dafür verantwortlich. Die Sache mit der Liebe hat also einen Haken, der sich in der freien Marktwirtschaft und unserem Konsumverhalten verfangen hat. Ich wende mich daher an Ernst Fehr, Professor für Mikroökonomik und experimentelle Wirtschaftsforschung. Seine Vermutung klingt für mich plausibel und konsequent. In einer Gesellschaft mit grösserem Reichtum ist die Frau nicht mehr auf einen «Brötliverdiener» angewiesen und der Mann kann selber kochen. Ist eine Gesellschaft gegenüber der Scheidung liberal eingestellt, so führt eine Trennung weder in die Armut noch in ein soziales Abseits. Im Gegenteil meint Fehr: «Eine Scheidung bietet heute auch einen Neuanfang.» Die Liebe hat sich von der Ehe emanzipiert. Sie wurde erwachsen.

Dass sich die Liebe vom «ewigen Bund der Ehe» gelöst hat, heisst nicht, dass Homo Romanticus ebenso denkt und ich frage mich, ob wir bereit sind, uns von der Ehe zu scheiden. Brigitte Frizzoni vom Fach Populäre Literaturen und Medien beobachtet nämlich das gegenteilige Phänomen in den Medien. Die typischen Handlungsmuster in populären romantischen Filmen und Büchern suggerieren, dass die Liebenden nach langen Odysseen in den Hafen der Ehe einlaufen. Darauf folgt dann: «Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute glücklich und zufrieden». «Allerdings», so Frizzoni , «setzt die Liebesgeschichte nun auch häufiger nach einer Trennung ein und endet mit einer neuen Ehe.» Hier spiegeln sich sowohl eine Liberalisierung wie auch ein Festhalten am Ideal der Liebesehe wieder. Trotzdem bleibt Frizzoni skeptisch. «Viele Menschen betrachten Filme wie ‹Pretty Woman› oder ‹Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück› mit kritischem Auge. Sie sind sich der Traumfabrik Hollywood bewusst und wissen, dass echte Liebe im Alltag auch Arbeit und Schmerz bedeutet.»

Auch wir vom Fach Erotizistik sollten unsere Forschung mit kritischem Auge betrachten. Denn letztlich gehört die Liebe doch zu den Geheimnissen der Metaphysik. Und weil sie sich, wie ein erwachsener Mensch, immer wieder neu definiert, bleibt sie unfassbar. Ich zumindest kann mit Faustscher Erkenntnis sagen: «Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor».