Zuerst unbeholfen empfangen, später mit Freude geschwängert: Russische Studentinnen. Curdin Albin

Von der Russin aus dem Garten entführt

Im 19. Jahrhundert strömten Studentinnen aus dem Zarenreich an die Uni. Zuerst waren die Schweizer Männer ratlos, dann heirateten sie.

4. Mai 2009

Conrad Keller, Professor für Zoologie an der ETH Zürich, erinnerte sich Ende des 19. Jahrhunderts an seine Zeit als junger Dozent. Er schrieb: «Das studentische Leben hatte damals einen eigenartigen Charakter, indem das weibliche Element sich stark herandrängte.» Mit dem «weiblichen Element» meinte er genauer: junge, selbstbewusste und oftmals revolutionär gesinnte Russinnen.

1867 legte Nadezda Suslova als erste Frau ihr Doktorexamen an der Universität in Zürich ab. Ihr folgten zahlreiche Frauen aus der russischen Oberschicht. Schweizer Unis gehörten zu den ersten Hochschulen, die Frauen aufnahmen.

Schwangere Revolutionärinnen

Die Kommilitonen waren anfangs überfordert und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Sie rissen unhöfliche Witze und klebten ihren Mitstudentinnen Papierchen auf die Kleider.

Mit der Zeit gingen sie offener auf die exotischen Banknachbarinnen zu. Zu Schwangerschaften kam es bei solchen Annäherungsversuchen immer wieder. Komplikationen hatten die Affären für die jungen Männer kaum. Die selbstbewussten Russinnen kehrten in solchen Fällen nicht selten ins Reich zurück, um dort ihr Kind alleine aufzuziehen.

Die Bevölkerung beobachtete das Geschehen kritisch: «Junge Männer, die die Mädchen besuchten, und noch schlimmer, junge Mädchen, die gelegentlich junge Männer in ihren Zimmern aufsuchten, manchmal sogar abends!» Dass die jungen Russinnen selbst die Initiative ergriffen, kam wohl nicht selten vor. Eine Schweizerin erinnerte sich an einen Mann während ihrer Studienzeit: «Dazumal war er ein sanfter Jüngling, der in himmelsblauen Pantoffeln in seinem idyllischen Garten am Zürichberg droben herumwandelte und dann aber von einer resoluten Russin entführt wurde.»

Im «Bild der kleinen Russin, die mit der Mappe unter dem Arm, das Pelzmützchen auf dem kurzen Haar, die Augen wie von einem geheimen Schatz leuchtend, den Hörsälen zueilte», wie eine Schweizerin formulierte, wird die Bewunderung, aber auch der Neid auf die exotischen Kolleginnen deutlich.

Manchmal wurde aus dem Abenteuer Ernst. Der sozialistische Medizinstudent Fritz Brupbacher verliebte sich in seine Kommilitonin Lidija Petrowna Kotschetkowa. In seinen Memoiren schwärmt er von ihrer Aufopferungsbereitschaft. Im Herbst 1901 heirateten sie.

Er war nicht der einzige, der den Russinnen verfiel. Brupbacher gab zu: «Die Bekanntschaft mit der russischen Intelligenz bedeutete einen Einschnitt in meinem Leben.» Es kam vor, dass man ihm Notizen mit eindeutigem Inhalt zusteckte : «Dürfte ich Sie um den kleinen Liebesdienst ersuchen, mir den Namen jener grossen, brünetten Comilitonin auszukundschaften (discret natürl.)...Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir das voraussichtlich etwas complizirte und von zahlreichen Zischlauten durchspickte Wort orthographisch richtig zustellen könnten.»

«Eine revolutionäre Ehe in Briefen», Chronos Verlag 2003, 434 Seiten