Krieg auf der Strasse

Historische Persönlichkeiten äussern sich zu Studiums-Sorgen. Dieses Mal: Ovid.

4. Mai 2009

Ich komme um die Ecke gebogen, will ausweichen, doch sie hat mich bereits mit ihrem Blick fixiert, steuert auf mich zu und fragt mich nach meinem Befinden. Diese Freundlichkeit – widerlich! Unter dem Arm trägt sie ihre Waffe: eine Mappe mit Bildern leidender Menschen. Schlimmer noch: leidender Kinder. Mit dieser Waffe lassen sich keine Patronen verschiessen, ihre Munition ist moralischer Natur.

An jeder Ecke lauern sie: Spendensammler, die im Auftrag wohltätiger Organisationen in den Krieg ziehen. Einen Moment zu wenig abweisend, nur ein kurzer fragender Blick und schon ist es geschehen. Wie Spider-Man, wenn er sich mit seinen Fäden irgendwo festgemacht hat. Die Mappe geht auf, die Fronten sind formiert, die Spendensammlerin eröffnet das Feuer. Mein Blick fällt auf eines der Bilder. Dazu erhebt sie ihre nette, predigende Stimme – Volltreffer! Im Innern meiner Brust klafft eine Wunde – schlechtes Gewissen macht sich breit.

Gerät man auf der Strasse in die Kampfzone eines Spendensammel-Kriegers, ist zumindest eine Teilniederlage bereits besiegelt. Wer nicht durch ein klares «Nein!» den lästigen Angreifer abwehrt und damit einen Nahkampf vermeidet, wird in den sprachlichen Fernkampf verwickelt, bis der Spendensammler ablässt und sich sein nächstes Opfer sucht. Wer gegen Moral nicht immun ist, wird mit einem blutenden Gewissen kämpfend weitergehen müssen.

Der moralische Vorhang verschleiert jede politische Dimension – unterschreiben, ein paar Leben retten, und wieder rein in den alltäglichen Strom. Die erfolgreiche Verschleierung reproduziert sich selbst. Fehler in der globalen ökonomischen Struktur lassen nun mal jeden Tränensack kalt.