Gibt es heute noch junge Menschen, die an Lenins Theorien glauben? Philip Schaufelberger

Ein Steinwurf von der Revolution entfernt

Die ZS hat sich auf die Suche gemacht. Und sie schliesslich gefunden: Die letzten Klassenkämpfer. Zum Stand der Weltrevolution im Februar 2009.

14. Februar 2009

Wer am 6. Juli 1971 den Lichthof der Uni Zürich betrat, der musste meinen, die Weltrevolution stehe unmittelbar bevor: Hunderte Studierende hockten am Boden und skandierten für eine neue Welt. An den Balustraden im Stockwerk F hingen drei grosse Leintücher, die Köpfe von Lenin, Mao und Marx waren darauf gemalt und wachten über die Umstürzler. Etwas weiter unten hing der Sowjetstern.

Die Polizei räumte den Sitzstreik in der folgenden Nacht. Die grosse Revolution scheiterte. Heute sitzen die Studierenden von damals in Schulen, Kulturbehörden und im Bundesrat. Oder sind Manager geworden.

Wer dieser Tage den Lichthof der Uni Zürich betritt, sieht strebsame Studierende im Kragenhemd, die auf den Laptop starren. Ausnahmezustand herrscht im Lichthof, wenn McKinsey und Deloitte an den Career Days Broschüren verteilen. Revolution sieht anders aus.

Trotzdem haben die Protestierenden von 1971 nachgewirkt. Die Revolution lebt weiter. Wir haben einige Studierende getroffen, die, mehr oder weniger versteckt, auf die grosse Veränderung hinarbeiten.

Industriequartier, ein Anarchist

Es ist kalt in Zürich am Quellenhof. Adrian lässt zum Glück nicht lange auf sich warten. Eigentlich wollte er ja kein Interview geben. Schliesslich hat es doch geklappt. Er habe aber nicht allzu lange Zeit, sagt er und zieht an seiner Zigarette. Wir gehen in ein Lokal unweit von seinem Arbeitsort, dem Büro der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee. Im Restauraunt «Holzschopf» spielen ältere Leute mit Würfeln.

Wieso er sich politisch engagiere? – «Wieso nöd?!», gibt der 24-Jährige zurück. In Glarus als Einzelkind in einer bildungsbürgerlichen Familie aufgewachsen, sei er politisch aktiv gewesen, seit er sich erinnern könne, erzählt Adrian. Mit 18 Jahren begann er sich für anarchistische Theorien zu interessieren, er begann mit «Bildungsarbeit auf dem Land». Dort sei die revolutionäre Arbeit besonders nötig. Mit Gleichgesinnten baute er eine Bibliothek auf und führte politische Filme vor. Deshalb wohnt Adrian immer noch auf dem Land, obwohl er schon seit fast fünf Jahren in Zürich Geschichte studiert.

In der Unipolitik hielt er es nicht lange aus. Ein Jahr lang sass er im Studierendenrat (StuRa) der Universität Zürich – ein «abschreckendes Erlebnis», sagt Adrian. «Da gab es ewige Diskussionen um gar nichts.» Zudem sei der StuRa finanziell von der Uni-Leitung abhängig. «Wie soll man da etwas Grundlegendes verändern können?» Dass man das eigentlich kann, daran zweifelt Adrian nicht. Er hofft auf eine anarchistische Revolution. «Die Welt hat gerade in diesen Krisenzeiten eingesehen, dass ein Wechsel nötig ist!», meint er. Man müsse zurück zu autarken Systemen, welche die Grundversorgung garantieren würden. Um das Modell zu testen, verbrachte er schon einige Ferienwochen in Anarchisten-Camps.

Uni Zentrum, ein Marxist

Etwas erstaunt verabschieden wir uns von Adrian. Ist das die Zukunft? Globalisierung rückgängig machen, wieder Selbstversorger werden? Wir wollen eine Zweitmeinung einholen und nutzen dazu erst mal kapitalistische Hochtechnologie. Das 13er-Tram bringen uns an die Uni Zentrum. Im Lichthof wartet Michael Koller, in der Hand einige Plakate, die für eine politische Veranstaltung werben. Michael ist überzeugter Marxist und ein überzeugender Redner. Eines hat er mit Adrian gemeinsam: Das Desinteresse für Unipolitik. «Der StuRa ist eine kleine, kastrierte Version des Parlamentarismus.»

Mit grossem Elan spricht Michael vom Klassenkampf, von Produktionsmitteln, vom Kapital, von Gebrauchs- oder Tauschwerten. Von Sozialdemokraten und Globalisierungskritikern hält er nicht viel mehr als vom StuRa: «Wer der Illusion nachhängt, der bürgerliche Staat könne als Instrument einer gut funktionierenden Gesellschaft dienen, ist für mich kein Linker.» Die Veränderung im Kleinen ist für Michael der falsche Weg. Verbesserung gibts nur in grossen Würfen. Michael will die kommunistische Weltrevolution.

Eine linke Gesinnung habe er seit jeher, erzählt Michael, 28 Jahre alt. Für politische Arbeit interessierte er sich als 20-Jähriger aber noch nicht. Damals studierte Michael Philosophie und Literaturwissenschaft. Ein Krankheit zwang ihn, das Studium abzubrechen.

Vor vier Jahren begann er seine ausserparlamentarische politische Arbeit in einer revolutionären sozialistischen Organisation. Er organisiere politische Veranstaltungen und kämpfe für die Rechte von Arbeitern, erzählt Michael. Steine werfen am Ersten Mai? «Das halte ich für verfehlt.»

Irchel, zwei Klandestine

Weltrevolution ohne Gewalt, geht das? Werden sich die Unterdrückten friedlich erheben und das Establishment die Waffen kampflos niederlegen? Wir beschliessen weiter nachzufragen. Als wir aus dem Unigebäude treten, werden wir von Regen überrascht und ein starker Wind pfeift uns um die Ohren. Vielleicht ein Vorzeichen des grossen Umsturzes? Wir rennen den Gebäuden entlang zur Tramhaltestelle Unispital und wärmen uns im 9er-Tram auf. Am Milchbuck holt uns Walter, 19 Jahre, ab. In einem Spunten an der Bucheggstrasse wartet bereits sein Freund Heinz, 25 Jahre.

Die beiden Politologiestudenten geben sich klandestin. Die Organisation, der sie angehören, wollen sie in der ZS nicht nennen. Auch ihre wahren Namen verraten sie nicht. Und fürs Foto kehrt uns Walter den Rücken zu.

Heinz arbeitet seit neun Jahren am Klassenkampf, Walter erst seit deren zwei. Am Anfang seines Engagements, erzählt Walter, stand die simple Frage, die so manches junge Herz ganz nach links rücken lässt: Warum geht es den einen Menschen so gut und den andern so schlecht? Ihn liess die Frage nicht mehr in Ruhe. «Durch das Studium und die wissenschaftliche Aufarbeitung begann ich zu verstehen, wieso das so ist – und auch, was ich dagegen machen kann», erzählt er.

Sie seien sich bewusst, sagen Heinz und Walter, dass Farbanschläge oder fliegende Steine am ersten Mai keine direkte Wirkung hätten. Sie tun es trotzdem. «Es handelt sich dabei um ideologischen Symbolismus», sagt Walter etwas kryptisch. Hä? – «Wir wollen zeigen, dass es noch Widerstand gibt.» – Schon deutlicher.

Uni Zentrum, ein Pragmatiker

Der Regen hat sich verzogen, Zeit für etwas Schönwetterpolitik. Wir fahren zurück zum Uni Zentrum, wo wir mit Matthias Hartmann, 24, verabredet sind. In den Augen von Michael, Heinz und Walter arbeitet er für das System. Hartmann ist bei den Jungsozialisten und sitzt im StuRa. Revolution? An die glaube er nicht. Trotzdem hört Matthias Hartmann das Wort Pragmatiker nicht gerne: «Ich setze mich für eine andere Universität in einer anderen Schweiz in einer anderen Welt ein», umschreibt Matthias sein politisches Handeln. Dafür kämpfe er mit Herz und Hoffnung. Vom Berufslinken ist Hartmann, mit entwaffnendem Blick und wilder Mähne auf dem Kopf, tatsächlich noch meilenweit entfernt. Er gestikuliert und gerät in Fahrt, wenn er von der besseren Welt spricht.

Fast meinen wir, Hartmann wolle das System mit Blumen kippen – da sagt er auch schon, dass er kein Pazifist sei. Wo politische Gewalt helfen könne, stelle er sich nicht dagegen. «Die Menschen müssen erkennen, dass das herrschende Wirtschaftssystem nicht in ihrem Interesse handelt. Dafür müssen wir alternative Ideen aufzeigen und eine kritische Kultur leben – gerade auch an der Uni», meint er und klingt jetzt fast revolutionär.

Wie war das jetzt? Ein Revolutionär spricht sich gegen Steinewerfen aus? Der sogenannte Pragmatiker legitimiert Gewalt? Verkehrte Welten. Haben wir die Orientierung verloren oder die Linken?

Der Ruf des Futtertrogs

Wir fahren nach Hause, etwas enttäuscht. Wir sind so schlau wie zuvor. Wir konnten nicht wirklich herausfinden, wer die Linken im Untergrund sind, denn sie konnten oder wollten sich selbst nicht genau einordnen. Sie blieben zu abstrakt. Sie wollten zu wenig von sich preisgeben und grenzten sich vor allem ab. Die Erbkrankheit der harten Linken. Fast hat man das Gefühl, jeder bastle einsam an seiner eigenen Version der Weltrevolution, die ohne Einigkeit sowieso in weiter Ferne bleibt.

Wäre die Gelegenheit so schlecht? Wann, wenn nicht jetzt, wo das System infrage gestellt wird wie schon lange nicht mehr? Nehmen wir die Ungerechtigkeit wirklich nur mit einem Schulterzucken hin? Vielleicht bräuchte nur jemand den ersten Stein zu werfen. Oder zur rechten Zeit die entscheidenden Worte zu rufen. Vielleicht würden sich die Menschen erheben, den Reichtum verteilen und die Welt verbessern.

Wahrscheinlich werden sie es nicht tun. Das Leben ist schon ohne politische Umstürze kompliziert genug. Theodor Fontane soll einst gesagt haben: «Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand.» So verliessen beispielsweise auch Moritz Leuenberger und Joschka Fischer den Weg der revolutionären Tugend und marschierten durch die Institutionen. Heute sitzen sie am Futtertrog und werden von unseren porträtierten Linken verachtet.

Doch wo werden sie später einmal stehen? Adrian, der Anarchist, sieht sich in Zukunft mit einer 50-Prozent-Stelle in einer politischen Organisation. Er will in einer Kommune leben. Walter hofft, auch in alten Tagen noch an Demonstrationen anzutreffen zu sein. Man mag vielleicht an ihren Durchhaltewillen glauben. Der Glaube an die grosse Veränderung fällt aber schwer.