Duell: Gürtellinie

Unser Reporter half 0.8 Stunden in der Polyball-Werkstatt mit. Fürs Gratisticket reichte das nicht. Dafür entdeckte er beim Kleistern seine archaischen Triebe wieder.

Joel Bedetti (Darüber) und Sabina Galbiati (Darunter)
24. November 2008

Darüber

Leidest du unter dem Tourette-Syndrom? Willst du als persönliches Anschauungsexemplar die Zivilisationstheorie von Norbert Elias widerlegen? Bringst du deshalb kaum drei Sätze heraus, ohne dass es tönt, als ob ein 15jähriger Schwerpubertierender seine Eltern anschreit? Ach, du meinst, es sei cool, auch als Zwanziger noch zu fluchen wie der beschränkte Sergeant Hart in «Full Metal Jacket»?

Du tust mir leid. Auch ich habe einst geflucht was das Zeug hielt – bis ich 16 war und mich nicht mehr wöchentlich schreiend im Zimmer verkroch und zu Kurt Cobains Rumgehäule das Kopfkissen nassweinte. Später fehlte mir die intellektuelle Herausforderung, jedes Substantiv mit einem «huärä» zu garnieren, positiv konnotierte Dinge oder Personen «gäile shit» zu heissen oder jede Art von Erstaunen mit einem dumpfen «krass» zu kommentieren.

Wen wollen sie eigentlich beeindrucken, die, welche auch noch als Studierende und Erwachsene beständig unter die Gürtellinie zielen? Vielleicht ist es ein pubertäres Überbleibsel: Sie wollen der spiessigen Erwachsenenwelt zeigen, dass sie eben nicht mit Krawatte rumlaufen und noch ungehobelt und ungekünstelt daherkommen. Vierzig Jahre nach 68, in der Zeit von Richterin Barbara Salesch, Osman, Arabella Kiesbauer und Marcel Reich-Ranicki bringt man mit öffentlichem Gefluche aber niemanden mehr zum Aufheulen.

Wer sich ständig wie ein Kleinkind im Dreck unter der Gürtellinie suhlt, der wird den Pfützengestank nicht so schnell wieder los. Wer über alltägliche Themen nicht mehr reden, sondern nur noch fluchen kann, der hat mit der Welt irgendwie abgeschlossen. Wer so dem erweiterten Uterus (Universität) entschlüpft, schlägt sich erstmal gewaltig die Nase blutig.

Ich sag nur: Viel Spass dann beim Teamessen in der neuen Firma, wenn du dich mit einem herzhaften Rülpser ans unterste Ende der Bürohackordnung katapultierst. Viel Spass, wenn du mit 35 Jahren deine Freunde mit deinem Lieblings-Blondinenwitz beschenkst und dafür nur noch leicht betretenes Lächeln erntest. Oder dann, wenn dein Statthalter, der seltsamerweise noch immer keine Lehrstelle gekriegt hat, den 16. Geburtstag feiert – und du merkst, dass der Kleine keinen, aber auch wirklich gar keinen geraden Satz ohne ein kräftiges «huärä Schissdräck» herausbringt. Herzlichen Glückwunsch!

Darunter

Dieses scheissdumme Gesellschaftsblabla können wir uns wirklich an den Arsch schmieren. Von wegen Respekt, «nicht unter die Gürtellinie» und so, das glaubt doch kein Schwanz mehr. Ich frage euch, wo haben uns denn die ganzen Scheiss-Konventionen und Umgangsformen hingeführt? Unserem Glück haben wir in den Arsch getreten, als wir uns entschieden unsere Gefühle zu unterdrücken. Da ist jetzt nix mehr mit leidenschaftlichen Oden an unsere Triebhaftigkeit. Wehe dem, der einen Wutausbruch hat und seinen verbalen Agressionen freien Lauf lässt. In die Klapse würden sie uns schicken, ohne mit dem Arsch zu zucken.

Wir haben unsere Gefühle bis zur Neutralität getrimmt. Drum können wir sie jetzt in einem Furz mit der politischen und geistigen Neutralität das Klo runter spülen. Immer diese abgelutschte Neutralität gegenüber Allem und Jedem. Wo sind die guten alten Schimpfwörter geblieben, wo die Emotionen, wo das herzhafte Fluchen?

Damit nicht genug! Sogar unsere sexuellen Triebe gehen uns entweder am Arsch vorbei oder werden auf perverse Art in die Gesellschaft integriert. Da muss jetzt jeder ein Arschgeweih oder eine Fickfrisur zwischen den Beinen haben, und wenn die nichts helfen, gibts immer noch Viagra oder gemäss neustem Trend die «Lust-mach-Diät». Kein Wunder: wenn man im Privatleben die Sexualität wie das eigene Bankkonto behandelt, muss mans eben so kompensieren.

Wenns im Bett hoch kommt, dann heisst es heute nur noch «Ich will dich». Früher, viel früher, hätte es noch geheissen: «Ich will dich ficken.» Aber heute schämen wir uns so sehr, dass die Lust auf Sex flöten geht bei einem solchen Satz. Da muss sich jeder zuerst mit Hilfe von Kant, Freud und Derrida wieder in die nicht vorhandene Struktur des Lebens einordnen. Zum Kotzen ist das.

Unsere Vorfahren wusstens besser. Da gabs noch keine Gürtellinie. Die haben die abgründige Wahrheit sogar als Literatur verkauft. Da hiess es in den edlen Versen von Heinrich Wittenwiler noch: «Ir gunken, kotzen, bösen breken, daz euch der übel tot müess streken/ um die marter, die ich duld/ nit anders dann umb ewer huld!» oder zu Neuhochdeutsch: «Ihr Schlampen, Huren, räudigen Hündinnen, verrecken sollt ihr wegen der Qualen, die ich bloss eurer Gunst wegen leiden muss!». Da kann man nicht von einem vagen Bauchgefühl sprechen, das war noch ein eindeutiges Statement des Helden Bertschi Triefnas. Und auch wenn er ein affenarschiger Hosenscheisser ist: Man spürt seine Emotionen.