In stiller Kommunikation mit Gott – Versuchskaninchen Quadri unter Gottes Flügeln. Lukas Messmer

Zu Mittag mit Gott

Der Herr breitet seine Flügel über dich, bei ihm bist du geborgen – kein Wunder findet das Mittagsgebet im Uniturm statt. Der Autor machte sich an den Aufstieg.

27. Oktober 2008

Taizé... da war doch was. Meine Mutter war da mal als Begleiterin für die Konfirmandinnen. Muss also was Ökumenisches sein – Taizé. Ein Ort im Burgund, Frankreich. Für einige eine Pilgerreise wert. Berühmt vielleicht für seinen Wein, bestimmt aber für die «Communauté de Taizé», ein Kind des zweiten Weltkrieges, gegründet von einem jungen gebürtigen Schweizer. Das klingt erhellend, ich mache mich auf den Weg.

Donnerstag, 12.03 Uhr, Uni Hauptgebäude. Kandidaten sind schwer zu eruieren, Christen schwer zu erkennen. Die Ketten, an denen das Kreuz baumelt, unter mehreren Kleiderschichten versteckt – der Sommer ist vorbei. Und selbst wenn jemand an seinem Kreuz hängt. Insignien haben an Kraft verloren, seit Madonna sie für die Popkultur entdeckt hat. Gut – der Fotograf kommt.

Rein in die Wissensstätte. Keine Zeit für einen Kaffee, es geht an den Aufstieg. Zu Fuss. Endlich – Stockwerk Q – Quo Vadis?

Erst mal verschnaufen, den Schweiss abwischen, durchatmen. Der Weg zu Gott war schon immer beschwerlich. Rechts eine Türe. «Der Raum der Stille ist ein Andachtsraum. Studierende, die den Raum der Stille zum Ausruhen benutzen, sind gebeten, beim Verlassen wieder die ursprüngliche Ordnung herzustellen. Alle mitgebrachten Sachen werden wieder mitgenommen.» Ich öffne die Türe. Ein kurzer Gang, eine zweite Türe: «Bitte Schuhe ausziehen.» Der Raum. Sechs Meter hoch. Die Fenster auf drei Meter fünfzig. Schaut man raus, sieht man den Himmel – heute auch Wolken.

Zwei Turnschuhe verraten die Anwesenheit des jungen, schwarzen Mannes, der sich in der hinteren Ecke ausruht. Ein Mann muslimischen Glaubens aus Israel, wie er mir sagt. Er nimmt an der Besinnung nicht teil, wartet auf den Lift, verschwindet.

Taizé-Lieder sind echte Klassiker

Ein sehr junger Mann – Mathematikstudent im ersten Semester – steigt aus dem Lift und fragt nach den Taizé-Liedern. Damals noch ratlos, was denn die Taizélieder sind, weiss ich heute, dass ich sie schon lange kenne. In den 70ern komponiert, finden sich darunter Klassiker wie «Dona Nobis Pacem» oder die «Kyrie-Eleison-Reihe». Die Texte basieren auf Bibelstellen und sie sind in Latein oder in den verschiedensten europäischen Sprachen verfasst und werden vielfach wiederholt. Sie werden in christlichen Gottesdiensten in Deutschland, Österreich und der Schweiz gesungen. Der Gospel der Deutschsprachigen.

Aus dem Raum links tritt die Leiterin. Sie weist dem Erstsemestrigen den Weg. Der Ewigsemestrige wartet. Folgt ihnen mit Abstand. Der Raum der Stille ist bereit. Bereit zur Besinnung. Fünf Kissen laden zum Hinsetzen ein. Davor ein Buch mit Taizé-Liedern und das Programm. Musik zu meditativen Zwecken. Ich nutze die Zeit, eine bequeme Stellung (Sitzung?) einzunehmen. Mein Schneidersitz ist ein Witz, die Bänder zu kurz, es zieht in den Oberschenkeln. Ich verharre. Die Kerze in der Mitte hilft, zu entspannen. Wir bleiben zu dritt, und spätestens jetzt ist es klar. Ich kann nicht nur beobachten – ich mache mit. Die Seligpreisungen werden im Wechsel gesprochen. Ich lese gedämpft: «Selig sind die Trauernden... Selig sind, die reinen Herzens sind... Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.» Das geht ganz gut, ziemlich synchron, der ETH-Student und ich. Schwieriger wirds beim Lied. Keine Begleitung, keinen Beat und erst noch französisch. Zum Glück nur acht Takte lang, und bei der dritten (und letzten) Wiederholung treffe ich die meisten Töne ziemlich genau. Der Bibeltext folgt fliessend. Es wird von Samuel berichtet, der die Stimme Gottes hört, sie aber nicht erkennt. Dann werden wir in der Stille unseren Gedanken überlassen. Im Wissen, daraufhin eine Fürbitte zu sprechen, mein Wort an Gott zu richten, beginnen meine Gedanken zu rotieren.

Die Leiterin macht den Anfang. Aus weiter Ferne dringen ihre Worte zu meinen Ohren, doch Fragen versperren den Weg zum Bewusstsein. Kommt eine Fürbitte ohne das Wort Gott aus? Wie kann ich Gott um etwas bitten, ohne dass er mich als Heuchler entlarvt, als Gelegenheitsbitter erkennt? Ich fühle mich wie vor einem Telefonat mit einem entfernten Bekannten, der als Türsteher arbeitet, und ich will gratis in den Klub. Und ich meine hier wirklich entfernt. Im Sinne von «Hey! Sali! Wie gehts?» – «Gut, danke. Und dir?» – «Ja, gut, merci» – «...» – «Ja gut, du, ich muss...» – «Machs gut.» – «Man sieht sich».

Angstschweiss aus allen Poren

Mittlerweile hat auch der Mathestudent seine Formel gesprochen. Mein Körper reagiert. Schweiss tritt aus allen Poren. Kein Pilates-Schweiss. Kalter Angstschweiss wie zu Schulzeiten, als die Hausaufgaben nicht gemacht wurden und ein Überraschungstest auf einen wartete. Aber auch die Angst, ertappt zu werden, wie zu Teenagerzeiten, als der bekiffte Sohn auf seine Mutter traf. Kurz: Ich spreche eine Bitte aus, mit meiner Mutter im Ohr und der Ahnung, dass auch Gott nicht mehr als Nein sagen kann.

Beim anschliessenden «Vater Unser» kann ich mich wieder entspannen. Die Stimme will auch beim zweiten Lied nicht kräftiger werden, doch die Erleichterung klingt mit. Ich löse mich aus dem Schneidersitz, die Bänder danken. Ich nehme alle mitgebrachten Sachen wieder mit, steige in den Lift. Im Lichthof unter den Studierenden melden sich alle Sinne zurück. Die ursprüngliche Ordnung ist wieder hergestellt.