Bücher lesen, Skripts pauken – das tun sich auch manche Senioren an. Marlies Aryani Rüegg

Dürfen die das?

Immer mehr ältere Menschen verbringen ihre Zeit an der Uni. Das kostet die Gesellschaft zwar etwas Geld, bringt ihr aber einen Nutzen in sozialer Hinsicht.

27. Oktober 2008

Interessante Gesprächspartner oder doch nur grauhaarige Eindringlinge in das jugendlich dominierte Territorium? Senioren-Studierende in Vorlesungssälen sind heute keine Seltenheit mehr. Vor allem in Vorlesungen der Geisteswissenschaften sind sie immer häufiger anzutreffen. Die Meinungen jüngerer Studierender gegenüber ihren älteren Kommilitonen gehen auseinander.

Was viele Studierende täglich bemerken, lässt sich auch statistisch belegen. Seit 1998 stieg der Anteil der älteren Studierenden an der Universität Zürich um mehr als zwei Prozentpunkte an. Heute sind 8,4 Prozent aller Studierenden älter als 40 Jahre. Die Theologische Fakultät beherbergt am meisten von ihnen. Bei den über 35-Jährigen beträgt der Anteil bereits 14 Prozent. Damit liegt die Uni Zürich weit über dem nationalen Durchschnitt. Denn gesamtschweizerisch sind nur gut sechs Prozent aller Studierenden älter als 35 Jahre.

Vielen jüngeren Studierenden ist diese Entwicklung ein Dorn im Auge. Der vorlaut eingebrachte Wissensvorsprung in Seminaren, das Gefühl, dass die älteren Studierenden begehrte Studienplätze besetzen, dass sie zum Platzproblem beitragen oder auch der erschwerte soziale Umgang tragen vereinzelt zur Ablehnung bei. Es fragt sich, ob es neben den subjektiven Urteilen, die Studierende affektiv aus ihrem Studienalltag heraus fällen, auch gute Gründe gibt, ältere Studierende als Problem zu betrachten.

Viel Zeit im «dritten Alter»

Beat Hotz-Hart, der an der Uni Volkswirtschaft lehrt, sieht zwei mögliche Ursachen für die steigende Zahl älterer Studierender. Entweder, meint er, sähen sie Bildung auch in einem späteren Lebensabschnitt noch als Investitionsgut, indem sie ihre Kenntnisse ergänzen, abrunden oder vertiefen; oder sie betrachten Bildung aus Neugier und Freude an einem Thema als Kulturgut.

Jakob Tanner, Professor für Geschichte an der Uni Zürich, weist anhand des Historikers Peter Laslett auf einen grundlegenden demographischen Strukturwandel hin. «Laslett zeigt, dass sich durch die ausgeprägte Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen das ‹zweite Alter› (Erwerbsleben) und das ‹vierte Alter› (Krankheit, Gebrechen, Tod) eine ‹dritte Phase› geschoben hat, in der der Zwang zur Erwerbstätigkeit entfällt, eine Rückzug in ein Krankenhaus oder Altersheim aber überhaupt noch nicht aktuell ist», führt Tanner aus. Die damit gewonnene Zeit steht den älteren Menschen zur freien Verfügung. Ein Universitätsstudium scheint ihnen in dieser Phase eine gute Möglichkeit zu bieten.

Fehlallokation von Ressourcen?

Wenn ältere Menschen erneut studieren, haben sie ihren Einsatz in der Arbeitswelt oft bereits hinter sich. Lohnt sich die Investition in deren Bildung für die Gesellschaft? Denn jeder Studienplatz ist stark subventioniert. Oder wird den älteren Menschen durch die Allgemeinheit nur eine interessante Freizeitbeschäftigung finanziert? Zu diesem Problem äussert sich Tanner wie folgt: «Wird das Studium als ‹Investition› (und die Universität als ‹Unternehmen›) betrachtet, wäre ein Studium von Pensionierten eine Fehlallokation von Ressourcen. Aus der Sicht gesellschaftlicher Lernprozesse ist dies nicht der Fall. ‹Ältere Absolventen› sind Menschen, die auch in anderer Hinsicht Initiativen entwickeln, die sich in Kinderbetreuung und unterschiedlichen Dienstleistungen bemerkbar machen.»

Jugendwahn der 90er vorbei

Der Soziologieprofessor Kurt Imhof ist der Meinung, dass die Bedeutung älterer Menschen für die Gesellschaft sogar zunehme. Er spricht vom Ende des Jugendwahns der 90er Jahre und davon, dass Weisheit wieder gefragt sei. «Älteren Menschen wird Definitionsmacht zugeschrieben, man nimmt sie eher ernst als Junge», sagt er. Mit dieser intellektuellen Autorität und breiteren gesellschaftlichen Netzwerken sei es älteren Menschen noch besser als jüngeren möglich, ihr universitär erlangtes Wissen in die Gesellschaft einzubringen.

Für Georg Kohler, Professor für Philosophie an der Uni Zürich, stellt sich nicht primär die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen des Studiums eines älteren Menschen. Der Einzelne sei nicht in erster Linie für die Gesellschaft da, meint er. Jeder und jede solle etwas vom gesellschaftlichen Leben haben. «Die Universität ist keine Ausbildungsfabrik für junge Fachkräfte. Sie ist ein Ort der Lehre, der Forschung und des wissenschaftlichen Nachdenkens», betont er. Ein solches Verständnis der Universität geht über eine Kosten-Nutzen-Kalkulation hinaus, vor der sich jeder Studierende einzeln verantworten müsste.

Weiter bemerkt Kohler, dass die lebenslange Bildung in unserer Zivilisation als Aufgabe verstanden werden kann. «Lifelong learning» heisst das Modewort, dessen Konzept einer abgeschlossenen Lernphase am Anfang des Lebens den Kampf ansagt. Dieser Vorstellung nach sollten die Menschen ihr Wissen immer wieder auf den neusten Stand bringen, um sich wandelnden Anforderungen anzupassen. In diesem Fall würde die Universität zur Flexibilität älterer Menschen auf dem Arbeitsmarkt beitragen – vorausgesetzt, sie nehmen nach dem Studium ihre Arbeit wieder auf.

Im Bologna-System sieht Kohler eine gute Möglichkeit der Leistungskontrolle, die auch ältere Studierende dazu zwingt, sich hinreichend zu beteiligen. Tanner glaubt jedoch nicht, dass Bologna älteren Studierenden entgegenkommt. Er wagt die Prognose, «dass ein Studium unter Bologna-Bedingungen, das sehr strukturiert ist, das permanente Präsenz in vielen Veranstaltungen voraussetzt und an Prüfungen und weitere schriftliche und mündliche Leistungsausweise gebunden ist, nicht der Attraktor für Menschen des ‹dritten Alters› werden wird.» Dieser Analyse zufolge entwickelt sich die Uni zu einem tendenziell Senioren-unfreundlichen Ort. Hotz-Hart ist der Meinung, dass speziell angepasste Angebote wie die Senioren-Universität zu begrüssen seien.

Senioren sind bessere Studierende

Imhof ist von der positiven Wirkung älterer Studierender auf die Universität und deren Studienalltag überzeugt. «Sie besuchen jede Vorlesung, stellen mehr Fragen als jüngere Studierende, bringen Freunde mit und besprechen den Stoff der Vorlesung untereinander. Mit ihren spezifischen Interessen und den höheren Anforderungen an Dozenten fordern sie diesen bessere Leistungen ab.»

Auch Kohler sieht die ältesten der Studierenden nicht als Behinderung, sondern als Bereicherung in Veranstaltungen. Sie seien interessant und hilfreich und schliesslich sei der intergenerationelle Dialog wünschenswert, betont er. «Sie stellen Fragen, die sonst nicht aufgeworfen worden wären, sie bringen Erfahrungswissen ein, sie irritieren auf produktive Weise», lobt auch Tanner seine ältesten Vorlesungsbesucher.