Weg mit dem alten Zeug! Lukas Messmer

Dem Studium adieu gesagt

Jeder Dritte schmeisst sein Studium hin. Wichtiger als ein Diplom ist Aussteigern ein Segeltörn, ein Interview mit Gölä oder eine Weinsammlung.

27. Oktober 2008

Nach vier Jahren Studieren wollte Iria etwas ganz anderes machen. Zwar ohne Diplom, dafür mit viel Begeisterung segelt sie jetzt um Europa. Vier Jahre investierte sie in ein Studium der Visuellen Gestaltung. Dann, während dem Diplom, hat sie alles hingeschmissen. Mit ihrem Mann Hans legt sie in diesen Tagen nach einer viermonatigen Reise um ganz Europa in Athen an – mit einem selbstgebauten Katamaran. «Ich hatte immer Zweifel, ob das Studium das Richtige für mich ist», sagt sie. «Ich habe mich an den erfolgreichsten Gestaltern gemessen und war deshalb mit meinen Arbeiten meist unzufrieden.»

Ob man in den Ozeanen umhersegeln will, einem Jobangebot nicht widerstehen kann, in den Prüfungen hängenbleibt oder einfach keine Lust mehr hat: Jeder Dritte beendet heutzutage sein Studium ohne Abschluss. Einen solchen braucht Iria auf hoher See nicht.

Irias Mann Hans ist Bootsbauer. Auch er war ein Studienabbrecher. Die Medizin machte ihn nicht glücklich. Erst als er seine Leidenschaft fürs Segeln entdeckte, versuchte er es mit Geographie – und schloss ab. Heute bieten Iria und Hans Segeltörns an. Vor sechs Jahren begannen sie mit dem Bau des Schiffs, mit dem sie zusammen mit ihrer einjährigen Tochter Moana im Juli im Westen Schwedens ihre Europareise starteten.

Phil I-er brechen häufiger ab

Heute brechen laut dem Bundesamt für Statistik rund 30 Prozent aller Studierenden ihre Ausbildung vorzeitig ab. Die Quote ist stark abhängig von der studierten Fachrichtung. In geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern beträgt sie fast 40 Prozent. In technischen Studiengängen steigt nur rund jeder Fünfte ohne Diplom aus. Deswegen hat beispielsweise die Universität Zürich eine ungleich höhere Abbruchquote als die ETH.

Über die Gründe, warum Sozial- und Geisteswissenschaftler ihr Studium so häufig abbrechen, kann nur spekuliert werden. Einerseits lässt sich der Unterschied durch die Methodik der zu Grunde liegenden Studie erklären. Denn die Zahlenakrobatiker des Bundesamtes für Statistik (BfS) geben den Auszubildenden «nur» 10 Jahre Zeit um ihr Studium zu einem Ende zu bringen. Die Langzeitstudierenden, die aus der Wertung fallen, sind zu einem grossen Teil Geistes- und Sozialwissenschaftler. Das heisst, dass diese «Verbliebenen» in der Statistik automatisch als Abbrecher gelten.

Ob das Bolognasystem die Anzahl Langzeitstudierender oder die Abbruchquote generell reduziert, ist allerdings noch nicht erwiesen. Denn die vorsichtige Vorgehensweise der Statistiker bedeutet, dass die Analyse eine Dekade nachhinkt – die aktuellsten Zahlen stammen von Studierenden, die ihre Ausbildung im Jahr 1997 begonnen haben. Bis die Studierenden in Bachelor- und Masterstudiengängen in der Statistik auftauchen, ist es damit noch mindestens fünf Jahre zu früh.

Ob das Bologna-System die Auswahl der Studierenden verbessert und damit die Abbrüche reduziert, ist zu bezweifeln. Im sogenannten Bologna-Barometer stellten die Statistiker 2005 – das Jahr der ersten Absolventen unter der neuen Reform – fest, dass nicht weniger Leute aufhörten zu studieren. Aber die Abbrüche passierten früher. Unsichere Studierende sind heute oft schon nach zwei Semestern weg, wohingegen sie früher ein, zwei Jahre länger mit sich und ihrem Studium haderten.

Keine Lust auf schlechte Referate

Das neue System – für Idealisten wie Manuel Grund genug, es mit dem Studium sein zu lassen. Manuel ist gar kein Fan der neuen Studienreform. Eine komplizierte Sache sei das Ganze, zu starr und zu unflexibel. «Es geht nicht mehr um die Inhalte. Vielmehr wird damit eine Jagd auf Kreditpunkte eröffnet», sagt er. Viel zu oft habe er sich schlechte Referate von Komilitonen anhören müssen, die es sich auf dieser Jagd leicht machen wollten. «Man geht den Weg des geringsten Widerstands», sagt er. Manuel brach sein Geschichtsstudium nach zwei Jahren ab. Einige Zeit später überlegte er, sich doch noch bis zum Bachelor durchzubeissen, damit er mit einem Master in Sozialarbeit weitermachen kann. Das erübrigte sich, als er die Zusage für ein Praktikum erhielt. Ab November betreut er schwererziehbare Kinder. «Etwas Praktisches machen, das habe ich im Studium vermisst», sagt er.

Vom Wurst- zum richtigen Radio

Ein Pragmatiker ist auch Marcel Juen. Er hat es gleich zweimal probiert mit Studieren. Zuerst Betriebswirtschaft, nach zwei Jahren Publizistik. «Die Medien haben mich schon immer interessiert», sagt er zwar. Mit den Pflichtfächern konnte er aber gar nichts anfangen. «Statistik interessierte mich nicht die Bohne.» Marcel fiel mit einer Note unter 3 durch. Beim zweiten Anlauf steigerte er sich etwa um eine halbe Note, so genau wisse er das gar nicht mehr. Viel mehr Spass als Quotienten Berechnen bereitete ihm sein Job. Mit Freunden produzierte er beim Schaffhauser Radio Rasa Sendungen. «Wurstradio» nennt er es. Damit sie überhaupt Hörer hatten, mussten sie ihre Freunde überreden, sich übers Internet einzuschalten. Trotzdem gingen sie mit ihren Presseausweisen überall backstage. «Es war pure Trash-Kultur», erinnert sich Marcel. Und es sind gute Erinnerungen. Sie sollten seinen Beruf viel mehr vorbestimmen als es das Studium je hätte tun können. Heute ist Marcel Moderator beim Zentralschweizer Radio Sunshine. Dort ist er über das Weltgeschehen immer bestens informiert, kann sich mit Amanda Ammann fotografieren lassen und seine Tattoos mit denen von Gölä vergleichen. Und er spürt den «Kick, wenn das rote Lämpchen leuchtet», wenn er live auf Sendung ist. Um etwas zu lernen, sich weiterzubilden, geht er nun andere, pragmatischere Wege. Zurzeit absolviert er eine Ausbildung am Medienausbildungszentrum (MAZ) in Luzern.

Die Weisheit in luftiger Höhe

Auch wenn gerade Ex-Miss Schweiz Amanda Ammann nicht das beste Beispiel ist – denn sie studiert noch immer – erfolgreich kann man auch werden, wenn man das Studium beiseite legt. «Ich scheisse auf die Rechtswissenschaften», sagte etwa schon in frühen Jahren der französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821-1880). «Sie bringen mich um und verblöden mich.» Auch der wohl berühmteste Wissenschaftler überhaupt, Charles Darwin, war kein überzeugter Student. Sein Studium widerte ihn an. Er beklagte sich über langweilige Vorlesungen. Darwin wechselte Studienfach und –ort und promovierte in Cambridge statt in Edinburgh – in Theologie statt in Medizin. Auch in der heutigen Zeit schmeissen prominente Namen ihr Studium hin. Steven Spielberg brach sein Studium der Filmwissenschaften ab und holte den Abschluss erst nach dem Gewinn von zwei Oscars nach. Microsoft-Chef Bill Gates, Apple-Guru Steve Jobs und Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sind weitere prominente Namen einer langen Liste. Sogar der «König von Mallorca», Jürgen Drews, hat vier Semester Medizin studiert. Und Bergsteiger Reinhold Messner schöpfte die Weisheit von der hohen Bergluft, nicht etwa von der Wissenschaft: «Als ich erkannt habe, dass ein selbstbestimmtes Leben wichtiger ist als ein Titel, wurde ich erfolgreich», gibt er den Besuchenden der deutschen Aussteiger-Webseite studienabbrecher.com mit auf den Weg. Sein Studium der Vermessungskunde beendete er vorzeitig.

Nach zehn Jahren abgebrochen

Selbst bestimmt hat auch Marcel Michel sein Leben. Stolze zehn Jahre lang war er immatrikuliert, stand kurz vor seinem Jura-Liz, dann brach er ab. Sein Vater war gestorben, ausserdem hatte er ein Jobangebot von der ZKB. Dort hatte er schon während des Studiums stundenweise gearbeitet. Rechtswissenschaften hatte er studiert, damit er sich nirgends verpflichten musste. Er hatte Zeit um zu reisen, ging in Studienaufenthalte nach Berkeley oder Mexiko, wo er in erster Linie «das Leben genoss». Das Geld dazu verdiente er bei der Bank oder mit dem Handel von Wein. Mit einem Freund ging er mit ein paar Flaschen in Restaurants vorbei und versuchte die Wirte mit einer speziellen Marke zu überzeugen. In seinem Keller stehen noch heute viele teure Flaschen, die meisten für seinen eigenen Gebrauch. Er zeigt auf eine Glasvitrine: «Hier sind auch ein paar Franzosen drin zum Spekulieren», sagt er. Spekuliert hat er auch an der Börse. Mit den Gewinnen und seinem guten Lohn in einer Führungsposition im Bereich der Privatkunden-Betreuung konnte er sich ein Liebhaberauto und eine Harley Davidson leisten.

Marcels Werdegang ist ein Beispiel dafür, dass auch Studienabbrecher im Beruf erfolgreich sein können. Er hat gelernt, durch Leistung im Job aufzufallen und weiterzukommen. Vielen Absolventen fehlt dieser Wille, sie verlangen mehr und definieren sich durch ihr Abschlussdiplom, und nicht durch ihre Fähigkeiten. Marcel war lange mit wenig zufrieden. Bis vor fünf Jahren, als er 38 Jahre alt war, wohnte er in einer WG. «Ein Studium hätte vieles vereinfachen können», sagt er. «Als Absolvent wird man als Karriere-Typ angesehen und dementsprechend gefördert.» Marcel verdient heute gut. Um die Karriereleiter ganz hoch zu steigen, fehlt ihm wohl doch das Diplom, dem er einst so nahe war. Doch je älter er wird, desto mehr spürt er, dass Zeit der wahre Luxus ist, nicht Geld.