Samuel Nussbaum

Ach du studierst Mathematik?

Heisst das dicke Brillengläser, Kopfhörer als Tarnung und WoW-Shirts?

27. Oktober 2008

Ich habe keine Vorurteile, aber Menschen wie dich erkenne ich sofort. Du fällst mir schon auf, wenn du rücksichtslos mit deinem violetten Invicta-Thek ins Tram steigst. Deine Brillengläser, dick wie Flaschenböden, die längst aus der Mode geratenen Siebenachtelhosen und dein «World of Warcraft»-T-Shirt verraten doch schon alles. Du lebst in einer Welt von Zahlen. Dein bester Freund ist dein Computer, auch der funktioniert nur mit Zahlenkombinationen. Du warst es, der uns darauf hinwies, dass 1100101 nicht «ich liebe dich» heisst, als wir damals zum gleichnamigen Lied von «Das Modul» tanzten. Schon deine Artgenossen im Langzeitgymi haben mir Leid getan, weil sie immer alleine dasas-sen. Wenn ich von deren Begabungen profitieren und die Matheaufgaben abschreiben wollte, kam nur ein harsches «Nein, ich lass dich nicht abschreiben, das ist unfair!» zurück. Bestimmt warst du auch so, bevor du dann ins mathematisch-naturwissenschaftliche Gymi gewechselt hast, wo du dich dann endlich intensiv den Zahlen widmen konntest. Eigentlich beneide ich dich auch. Dir scheint es wirklich egal zu sein, wie du aussiehst. Trotzdem, Sandalen mit Socken zu tragen ist einfach nur unpassend. Du bist schlecht rasiert und bleich im Gesicht. Durch die offenen Fenster auf deinem Bildschirm kommt halt doch kein Sonnenlicht. Wahrscheinlich sind die Kopfhörer in deinen Ohren nur Tarnung, damit du nicht angesprochen wirst, denn du bist introvertiert und beschäftigst dich lieber mit Problemen wie der Veränderung von «World of Warcraft»-Charakteren oder der Wurzel aus minus X. Schule und Computerspiele, das ist deine Welt.

Deine Eltern, beide Lehrer, hatten für dich nicht viel Zeit. Ein zweites Kind konnten sie sich nicht leisten (das haben sie sich ausgerechnet!). Doch Lehrer möchtest du nicht werden. Du möchtest mal hoch hinaus und für die Risikoeinschätzung bei einer Versicherung verantwortlich sein – das wäre dein Traum. Nun steigst du aber aus dem Neunertram und gehst ins ETH-Hauptgebäude und los gehts mit dem Zahlenspass!

Stimmts? Der Fachverein antwortet:

«Ja, ich studiere Mathematik an der ETH, und was machst du?» Ich liebe diesen Moment, diesen Schleier der Stille, diesen Ausdruck des Schreckens auf dem Gesicht. Da hilft auch kein «Weisst du, ich studiere an der HSG!».

Man erhält nochmals einen musternden Blick, die verzweifelte Suche nach einem T-Shirt mit der Aufschrift «Ich liebe 3.141...» oder zumindest einer Uhr mit integriertem Taschenrechner – aber da ist einfach nichts. Eigentlich ist es ja schön diesen Status in der Gesellschaft zu geniessen, denn das Profil eines Mathematikers und die Vorurteile sind zwei diskrete Listen.

Dass wohl die Mehrheit der Mathematiker ein faules Lumpenpack ist, wird total vergessen. Oder wer studiert schon freiwillig Mathematik, der im Gymi nicht immer nach zehn Minuten mit den Mathe-Hausaufgaben fertig war? Man wollte Freizeit, keine Hausaufgaben. Da ist ja schon mal klar, dass man ins mathematisch-naturwissenschaftliche Gymi geht. Lieber eine halbe Stunde Mathe machen (das geht ja ruck-zuck) als zwei Stunden einen Hausaufsatz schreiben. Das Schlimme ist, dass du eine Vier kriegst beim Hausaufsatz und du weisst nicht mal wieso. Aber bei der Mathe hattest du eine Sechs (und wusstest auch warum), den Nachmittag des Vortags frei und wurdest erst noch für deinen Genius bewundert. Da war mir absolut klar – so ein Leben will ich führen, ich geh Mathe studieren! Dann stellt sich noch bei allem dem heraus, dass man tolle Jobaussichten hat, weil es zu wenige Mathematiker hat, die jungen hübschen Damen diese Begabung faszinierend finden und du beim Nachhilfegeben während dem Studium ein Heidengeld verdienst. Nach dem Studium suchst du dir einen Job, kannst pro Tag vier Stunden arbeiten und vier Stunden chillen, da eh keiner versteht, was du genau machst. Ich sage nur: «Ich studiere Mathe an der ETH – ich bin doch nicht blöd!» VMP – Verein der Mathematik- und Physikstudierenden an der ETH Zürich