Die Evolution des Studierenden. Mirjam Sidler

Zielstrebig, leistungswillig und immer mobil

Die Wirtschaft fordert Geld für gute Noten. An der ETH ist dieses Szenario bereits Realität. Hier spricht die neue Studierenden-Elite von Zürich.

15. September 2008

Hier kommt er, der neue Student. Die abgewetzten Jeans sind einer beigen Hose aus feinem Manchesterstoff gewichen.

Hier kommt sie, die neue Studentin. Eine flatternde Seidenhose hat den KaroRock ersetzt. Die Ohrenringe sind in der Schmucktruhe verstaut, stattdessen klebt ein strahlend weisses iPhone an der Ohrmuschel. Wenn kein Telefon ansteht, keine Textbotschaft beantwortet werden muss, entspannt sie sich für ein paar Minuten bei ruhiger Musik.

Bis es wieder piepst. Die Pause ist vorbei, denn das Leben ist kurz. So kurz, dass jede Sekunde zählt, um etwas daraus zu machen. Um den Gipfel zu erklimmen. Oder um wenigstens den Anschluss nicht zu verlieren.

Hier lernt er, der neue Student. Die Blicke wandern vom Flachbildschirm seines Laptops zum Dozenten vor dem Hellraumprojektor. Protokollieren aufmerksam das Geschehen, um auch ja nichts zu verpassen. Denn wer den Anschluss verpasst, der wird von denen zertrampelt, die nach oben rennen und dabei nach unten treten. Das Rennen ist eröffnet, «the winner takes it all». Nach oben schaffen es nur wenige. Diejenigen, die es schaffen, die klettern immer höher und höher, wollen gar nicht mehr aufhören zu rennen.

Die neue Exzellenz

Den Gipfel erklommen, lassen sie keine Blessuren des Kampfes erkennen. Verstecken sich hinter schwarzen Anzügen und zuversichtlichem Lachen, das staunende Erstsemestrige auf Broschüren von McKinsey und Roland Berger Consulting anstrahlt. Drängen vorwärts an Meetings und Workshops, auf dass ihr Gipfelsturm nicht unterbrochen werde.So sollen sie aussehen, die Studierenden von heute. Die zuversichtlichen Vorzeigeakademiker im dunkelblauen Businessdress, die hierzulande früher nur auf Hochglanzfotos oder in Reportagen über amerikanische Eliteunis strahlten, sind der Werbung entwischt. Sie sind auch in Europa in den letzten Jahren Realität geworden. Anzutreffen sind die neuen Elite-Studierenden in Förderungsprogrammen, die sich abwechslungsweise mit Wörtern wie Exzellenz, Challenge, Talent, Achievement, Elite betiteln.

In den angelsächsischen Ländern mit ihren privatisierten Universitäten existieren Studiengänge für Spitzenstudierende bereits seit Jahrzehnten. In Mitteleuropa läuft die Entwicklung etwas gemächlicher. Sie spaltet die Studierenden in eine auserwählte Elite und eine Masse, die sich mit schlechten Betreuungsverhältnissen und mässigen Jobaussichten herumschlagen muss. Doch unverkennbar melden sich auch an den hiesigen Universitäten die Vorboten einer Segmentierung, welche die Gesellschaft in wenige Gewinner und viele Verlierer teilt.

Geld aus der Wirtschaft

Wirtschaftsvertreter und Bildungspolitiker nennen es nicht Segmentierung, sondern Spreu vom Weizen trennen. Sie ermahnen die Talente, sich zu entfalten, damit sie nicht in der Masse des Mittelmasses untergehen. Die Talente, deren Leistungen schliesslich der ganzen Gesellschaft zugute kommen sollen. Und so haben sich selbst die Deutschen, die angesichts ihrer Vergangenheit Worte wie «Elite» sehr zögerlich in den Mund nehmen, dazu entschlossen, einzelne Universitäten mit dem Prädikat «Exzellenz» zu schmücken. Und die Studierenden der entsprechenden Universitäten heissen nun Elitestudierende. Sie erhalten bessere Betreuung, verbringen Austauschsemester an renommierten Universitäten. Und sie knüpfen exklusive Kontakte zu Vertretern aus der Wirtschaft, die ihrerseits auf der Suche sind nach den talentiertesten Köpfen für ihre Kaderpositionen. Kein Wunder, dass viele der Elite-Programme an den Universitäten von Unternehmen mitfinanziert werden. Kein Wunder sind die exklusiven Studiengänge fast nur in den wirtschaftswissenschaftlichen und technischen Fächern angesiedelt.

Studiengebühren nach Noten

Diesen Sommer hat die Diskussion auch in der gemächlichen Schweiz eingeschlagen wie eine Granate. Den Sprengstoff lieferte die Forderung des Wirtschaftsverbandes Economiesuisse. Sie schlug im April vor, ab der Masterstufe leistungsabhängige Studiengebühren einzuführen. Mit anderen Worten sollen die besten Studierenden belohnt werden. «Ihnen sollen die Studiengebühren erlassen werden. Studierende hingegen, die gerade noch zum Masterstudium zugelassen werden, haben den Höchstbetrag zu entrichten», forderte Economiesuisse in einer Medienmitteilung. Die Linke und die Studierendenverbände reagierten empört. Doch die Diskussion war eröffnet, und sie wird weitergeführt. Der abtretende Uni-Rektor Hans Weder lehnte die Forderung der Economiesuisse grundsätzlich ab, wünschte sich in seinem letzten Interview mit der ZS jedoch, dass die Besten an der Uni Zürich mehr belohnt würden: «Allgemein sollte man Leistung viel mehr Anerkennung zollen», meinte er und erzählte davon, dass die Uni inzwischen mehr Preise für herausragende Leistungen vergebe.

Intelligenz aus der ganzen Welt

An der ETH Zürich ist die Entwicklung schon weit fortgeschritten. Sie vergibt seit 2007 jährlich zwanzig Leistungsstipendien an besonders erfolgreiche und ehrgeizige Studierende. «Excellence and Opportunities Scholarships» heissen die Stipendien, die eigentlich Auszeichnungen sein sollen. Das Stipendium ist mit 21’000 Franken pro Jahr und Studierenden dotiert. Das sind 1’750 Franken im Monat. Damit lässt sich ein Studierendenleben – wenn auch kein luxuriöses – gut finanzieren.

«Im Excellent Scholarship geht es darum, die besten Köpfe für das Masterstudium an der ETH zu gewinnen – weltweit», sagt Silvia Biedermann, Leiterin des Stipendiendienstes an der ETH. Das scheint zu funktionieren: Die Stipendiaten und Stipendiatinnen kommen nicht nur aus der Schweiz, sondern aus der Türkei und den USA, aus Indien und China, aus Lettland und Deutschland.

Das Profil der Studierenden, die für ein solches Stipendium geeignet sein sollen, beschreibt Biedermann folgendermassen: «Sie müssen in erster Linie sehr gute Noten ausweisen. Wir nehmen nur die Jahrgangsbesten.» Dies sei in den Studierenden-Rankings ersichtlich, welche heute immer mehr Universitäten den Zeugnissen ihrer Absolventen beilegen würden.

Gute Noten allein reichen aber nicht aus zur Exzellenz: «Darüber hinaus müssen die Empfänger unserer Leistungsstipendien aussergewöhnlich durchhaltefähige, disziplinierte Studierende sein», weiss Silvia Biedermann. Denn neben dem Masterstudium erarbeiten sie ein eigenes Projekt in ihrem Fachbereich. «Sie haben lange Arbeitstage», weiss die Leiterin des Stipendiendienstes. Das Programm sei deshalb speziell auf motivierte und leistungsstarke Studierende zugeschnitten.

Aufsteigen, «so hoch es geht»

Zum Beispiel auf Studierende wie Peter Vogel aus Deutschland, 24 Jahre alt. Er studiert im neunten Semester Maschinenbau an der ETH und ist einer der «Excellence and Opportunities Scholarships»-Stipendiaten. Er absolvierte bereits den Bachelor in Zürich. Für das Stipendium bewarb er sich, als er gerade am Georgia Institute für Technologie seine Bachelorarbeit schrieb.

Peter Vogel sieht sich selbst nicht als Elite-Studenten, auch von Seiten der ETH werde ihm das keineswegs suggeriert, sagt er. Und doch erkennt man in ihm den Typus des Studierenden, um den sich die Recruiter von Consultingfirmen an den Absolventenkongressen reissen. Jung, dynamisch, zielstrebig, flexibel. Mit 25 Jahren wird er seinen Master in der Tasche haben. Neben dem Studium zieht er mit einem Kollegen, der an der Universität St. Gallen studiert, eine Firma auf. Das Produkt: Eine Software, welche Hochschulen ermöglichen soll, auf einer zentralen Plattform Angebote für Praktikas, Absolventenstellen und Masterarbeitsplätze zu sammeln.

«Nächsten März hoffe ich, voll in meiner Firma einsteigen zu können», erzählt Peter Vogel von seinen Zukunftsplänen. Auch im Consulting würde der angehende Maschinenbauer gerne arbeiten, aber nur ein, zwei, vielleicht drei Jahre. «Dann möchte ich den MBA absolvieren und mich selbstständig machen», sagt Vogel. Im Berufsleben möchte er aufsteigen, sagt er, «so hoch es halt geht!»

Ansporn zu Höchstleistungen

Ähnlich ambitioniert argumentiert Animesh Trivedi. Der 22-jährige kommt aus Lucknow im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Er machte seinen Bachelor in Informatik an der Universität von Allahabad. Im Jahr 2007 schloss Trivedi als einer der Jahrgangsbesten ab, als Auszeichnung erhielt er eine Goldmedaille. Seine Bachelorarbeit schrieb er jedoch an der ETH Lausanne. Dort wurde er auf das Excellence and Opportunities Scholarship-Programm aufmerksam, bewarb sich und erhielt den Zuschlag.

Nun studiert der angehende Computerwissenschaftler im neunten Semester als Leistungsstipendiat an der ETH. Die Förderung von talentierten Studierenden hält er für äusserst wichtig. «Solche Programme stellen begabte Leute in Konkurrenz und spornen sie zu Höchstleistungen an», sagt er. Ausserdem sorge eine solche Auszeichnung für Selbstvertrauen und trage somit zur Persönlichkeitsentwicklung bei, meint Trivedi. «Von diesem Wettbewerb profitiert die ganze Gesellschaft», ist er überzeugt.

Seit fünf Jahren keine Ferien

Auch der junge Inder ist ein Prototyp des neuen Superstudierenden und gleichzeitig ein Spiegelbild der Mentalität eines Schwellenlandes im rasanten Aufstieg. Der perfekte Kandidat für eine Kaderposition in der internationalen Wirtschaftsszene. «Ich arbeite üblicherweise deutlich länger als zehn Stunden am Tag», berichtet Trivedi aus seinem Alltag. Ferien habe er seit fünf Jahren keine mehr genommen. Zwischendurch ruhe er sich am Wochenende aus. «Das reicht mir, um frische Kräfte zu tanken», meint der rastlose Informatikstudent. An diesem Tagesablauf wird sich für Trivedi in nächster Zeit kaum was ändern. Denn er will hoch hinaus. «Ehrgeiz, Können und harte Arbeit sind die Triebkräfte des Erfolgs.» Und natürlich der Wettbewerb: «Im Leben wird man immer jemanden finden, der erfolgreicher und glücklicher ist als man selbst. Das gibt einem die Kraft, die Leiter weiter hinauf zu klettern – wenn man geben will, was es dazu braucht», philosophiert Trivadi. So lange er dazu fähig sei, lebe er dieses Motto. Doch dieser Wettbewerb ist nicht jedermans Sache. Manche ziehen ruhigere Gewässer vor. Ziemlich sicher ist das sogar die Mehrheit, wie eine Umfrage des Campus-Magazin der deutschen Wochenzeitung Die Zeit ergab. Parallel zu den Forderungen nach Elitestudierenden und Leistungsstudiengängen geniessen gerade bei Studierenden Werte ein Revival, welche dem diametral entgegenstehen.

Liebe statt Karriere

Die Mehrheit der heutigen Hochschulbesucher, so fand Zeit-Campus heraus, wünscht sich ein gesichertes soziales Umfeld, Liebe und Familienglück mehr als Karriere. Das sind Bedürfnisse, mit denen die Recruiter von McKinsey und co. wenig anfangen können. Werte, die mit einer Laufbahn in der globalisierten Wirtschaft nicht vereinbar sind.

So hell sie von den Hochglanzbroschüren strahlen, so laut Bildungspolitiker und Wirtschaftskapitäne nach ihnen schreien – dem Bild des Superstudierenden wollen nur wenige entsprechen. Sie treten das Rennen zum Gipfel gar nicht erst an – und können dabei nur hoffen, von den vorbeirennenden Elitestudierenden nicht niedergetrampelt zu werden.