Er braucht keine Worte, um das Gefühl auf seiner Zunge zu beschreiben. Maurizio Gaffuri

Na, wie schmeckt es?

Geschmäcker sind verschieden. Nicht für einige Wissenschaftler. Sie suchen nach den richtigen Worten, um sie in einem Lexikon des Geschmacks festzuhalten.

15. September 2008

Wann ist ein Apfel frisch? Wann sagt jemand, ein Apfel sei sauer? Fragen, die Felix Escher schon länger beschäftigen. Er ist Professor für Lebensmitteltechnologie an der ETH Zürich. Bei der Betreuung einer Forschungsarbeit zum Thema «Frische von Lebensmitteln» stiess Escher auf sprachliche Probleme, die den Rahmen seines Fachgebiets sprengten. Er wusste sich zu helfen und wandte sich an Angelika Linke, Professorin der Linguistik am Deutschen Seminar der Universität Zürich.

Dank beidseitigem Interesse entstand im Wintersemester 03 / 04 ein Forschungsteam mit dem Namen «Semantik der Sinne». Beteiligt waren Linguisten der Uni und der Zürcher Hochschule Winterthur sowie Lebensmittelsensoriker der ETH. Schon bald folgte ein gemeinsames Forschungsseminar an der Uni Zürich, eine Tagung und weitere Lehrveranstaltungen. Von Beginn weg waren Studierende – auch mit Lizenziatsarbeiten – an der Forschung beteiligt. Von Seiten der Projektmitarbeitenden besteht übrigens nach wie vor Interesse an neuen Lizenzianden.

Im vergangenen April startete nun das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Sensory Language and the Semantics of Taste», das grösstenteils von der Gebert Rüf Stiftung finanziert wird. Es beschäftigt sich mit dem Geschmackswortschatz der geschriebenen und gesprochenen deutschen Alltagssprache.

Futter für die Wirtschaft

Aufgabe der Lebensmittelsensorik ist es, sensorische Qualitäten über die Sinne zu erfassen und darüber quantitative Angaben zu machen. Der Einsatz von Sprache wird dabei oft nicht ausreichend reflektiert. Am Beispiel von «frisch», auf das die Lebensmittelsensoriker beim Versuch, Obst geschmacklich präzise zu beschreiben, zurückgriffen, wurde ihnen bewusst, dass die genaue Bedeutung des Wortes schwierig zu fassen ist.

Zwar konnten beide Seiten – Linguistik und Lebensmittelsensorik – die entdeckten Probleme für sich fruchtbar machen, doch verfolgten sie erst unterschiedliche Ziele: «Die Linguisten waren von der ausgeprägten Mehrdeutigkeit der sprachlichen Begriffe begeistert, während die Sensoriker eher Vereinfachung und Präzision anstrebten», so Daniela Macher vom Deutschen Seminar der Uni Zürich. Sie ist Projektkoordinatorin und widmete dem Thema ihre Dissertation. Man habe sich aufeinander und auf die Art der Fragestellungen des Gegenübers einstellen müssen. Ziel des neuen Forschungsprojekts ist ein Online-Lexikon des Geschmacks. Das Nachschlagewerk soll Nutzerinnen und Nutzer in der Lebensmittelindustrie, im Marketing, aber auch in der Wissenschaft ansprechen. Die Nutzung in der Praxis steht im Mittelpunkt, wie die Forschenden betonen. Gleichzeitig soll Grundlagenforschung in einem international kaum erforschten Gebiet geleistet werden.

Exakte Formulierungen sind in der Lebensmittelbranche enorm wichtig. Beispielsweise sind Werbeschaffende beim Sprechen über Geschmackswahrnehmungen auf eine funktionierende Kommunikation mit den Kunden angewiesen. Dies setzt ein Wissen über die Versprachlichung von Geschmackswahrnehmungen voraus. Auch in der Produktentwicklung und Qualitätssicherung geniesst die Sprache grosse Bedeutung. Die Wirtschaft zeigt daher reges Interesse an der Arbeit der Forschenden.

Die Geisteswissenschaften bringen fast nie etwas Nützliches hervor – so zumindest ihr Ruf. Dieses Forschungsprojekt läuft dem entgegen. Daniela Macher sagt, sie sehe es nicht als Einschränkung, sich an der Praxis zu orientieren, sondern empfinde es im Gegenteil als grosse Motivation, mit der Wirtschaft zusammenzuarbeiten.

Die Methodik der Untersuchungen orientiert sich an den Naturwissenschaften, indem zuerst empirische Daten erhoben werden. Neben sensorischen Tests werden Diskussionen in so genannten Fokusgruppen durchgeführt. Unter der Leitung einer Fachperson wird zum Beispiel über einzelne Geschmacksbegriffe oder Geschmackswahrnehmungen gesprochen. Die Gespräche werden aufgezeichnet und anschliessend verschriftlicht. Solchen Gesprächstranskriptionen sind Merkmale der gesprochenen Sprache wie Sprechpausen, Mimik oder Räuspern zu entnehmen.

Soziale und historische Bedingungen

Eine Fokusgruppe wird nach bestimmten Kriterien zusammengestellt. Die Forscher gehen davon aus, dass soziale, kulturelle oder geschlechtliche Faktoren unsere Assoziationen von Geschmackswahrnehmungen und damit unser Sprechen darüber beeinflussen. So gibt es erste Hinweise darauf, dass Männer und Frauen zum Beispiel eine unterschiedliche Vorstellung von «cremig» haben.

Die Möglichkeit der Verbalisierung von Geschmackswahrnehmungen ist sozial und historisch bedingt, so die zentrale These der Forschenden. Wie und wie gut uns eine Tasse Kaffee schmeckt ist massgeblich kulturell geprägt, obwohl wir biologisch gesehen vielleicht den gleichen Wahrnehmungsvorgang erfahren. Wir nehmen Bezug auf kollektives Wissen und kulturelle Standards und verhalten uns gruppenspezifisch. In diesem Spannungsfeld von Kultur, Biologie und Sprache bewegen sich die Forschenden. Eindrücklich zeigt die zur Abdeckung dieses breiten Gebiets notwendige interdisziplinäre Vernetzung, wie fruchtbar die Zusammenarbeit von Universität und ETH sein kann.

Links

sensorysemantics.ch