Reich der Wissenschaft inmitten von Sträuchern und Pflanzen: Die Uni Irchel. Maurizio Gaffuri

Das Campus-Musterkind

Weit abgelegen vom hektischen Zentrum blüht die Universität Irchel. Sie wird immer grösser und reifer. Platzprobleme kennt sie nicht. Ein Essay.

15. September 2008

Möchte man heutzutage an der Universität Zürich gewisse Nebenfächer studieren, muss man schon dickes Sitzfleisch und eine Aversion gegen Pausen besitzen. Die Universität Zürich ist nämlich ein komplex gewachsenes, organisches Gebilde. Wie Metastasen haben sich überall in der Stadt Institute und zusätzliche Vorlesungssäle angesiedelt. Da sind die scheppernden Züritrams und Shuttlebusse sehr damit beschäftigt, Massen von Studentenware rumzukurven. Und so eine Fahrt kann eben dauern. Wegen dieser, für den Durchschnittsstudierenden systemlos erscheinenden Platzierung der Einrichtungen, kann man des öfteren verwirrte Studierende erkennen, die völlig überfordert in irgendwelchen Nebenstrassen umherirren. Zum Beispiel sind sie auf der Suche nach der Uni Zürich-Nord in Oerlikon. Diese aber liegt geschickt versteckt in einem unauffälligen Gebäude an einer vielbefahrenen Strasse, umgeben von Garagen und Bürogebäuden. Inspiration ade.

23’100 Bäume und Sträucher

Die Notwendigkeit dieser zusätzlichen Gebäude angesichts der überfüllten Hörsäle an der Uni Zentrum ist unbestritten. Hätte man das nicht alles einheitlich planen und etwas zentraler bauen können? Stattdessen, scheint es, hat man sich in Zeiten der Gewinnmaximierung für die schnelle und kostengünstige, aber kurzsichtige Variante entschieden. Lange davor, als die heutigen Planer noch im Sandkasten rationalisierten, sah man sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Zu Beginn der Sechzigerjahre war es, als die Studierendenzahlen kontinuierlich anstiegen und mit bald mehr als 10’000 Studierenden die Kapazitäten der Uni Zentrum arg zu strapazieren drohten. Daher plante man in vorbildlicher Weitsicht den Gebäudekomplex der heutigen Uni Irchel auf dem grossen Areal der damaligen Landwirtschaftsschule Strickhof.

In den Siebzigerjahren entstand so ein zweiter Uni-Campus, der 30 Jahre danach mehr blüht denn je. Ein Campus (von lateinisch campus – das Feld), welcher das Wort auch verdient. Ungewohnt mutig war das Konzept. Unter anderem auch, weil es den Bau eines komplett von Menschenhand geplanten und gebauten Parks beinhaltete. Im Jahre 1986 wurden 23’100 Bäume und Sträucher nach Plan gepflanzt, um den Universitätsangehörigen und der Bevölkerung einen grosszügigen Naherholungsraum zu bieten.

Kunstfreunde willkommen

Obwohl die Lage verkehrstechnisch gut erschlossen ist, muss man heute die letzten hundert Meter von der Tramhaltestelle bis zu den Gebäuden der Uni zu Fuss zurücklegen. Der Weg führt durch den Park oder die umgliegenden Grünflächen, welche die Universität wie eine schützende Hülle umgeben. Man lässt die hektische Stadt zurück und betritt das Reich der Wissenschaft. Was sind das eigentlich für Leute, die sich da fast isoliert von der Aussenwelt in den rostfarbenen Beton-Gebäuden einfinden? Birkenstocksandalen und Hochwasserhosen lassen es vermuten, die Uni Irchel ist das Zentrum der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät. Das heisst, man trifft hier hauptsächlich Studierende der Biologie, Geografie, Mathematik, Physik, Medizin, Geologie und Chemie an. Zu erklären, was die da alle genau tun, würde den Rahmen sprengen und wäre zu kompliziert. Denn wer kann sich schon vorstellen, was ein Physiker macht, der Parameter für viele Universen im sechsdimensionalen Raum berechnet? Da wir schon beim Raum sind, die Architektur im Innern der Universität Irchel besticht durch Unkonventionalität. Wie die Architekten solch eine Raumaufteilung nennen weiss ich nicht, aber im Volksmund würde man wohl «Labyrinth» sagen. Und Vorsicht, das Sprichwort «Leichen im Keller haben» bekommt hier eine neue Dimension. Denn in den Tiefen des Irchels liegen dutzende in Formaldehyd eingelegte Leichen, bereit für die Sezierkurse der Mediziner.

Um all die Studierenden weiter geistig anzuregen, wurden zusätzlich überall Kunstwerke aufgestellt. Über 500 Kunstschaffende nahmen 1978 an dem bis dahin grössten je in der Schweiz durchgeführten öffentlichen Wettbewerb für Kunst am Bau teil und reichten ihre Entwürfe ein. Im Wettbewerbsprogramm wurde festgehalten: «Die Universität Zürich Irchel wird die Naturwissenschaftler beherbergen, die von ihrer Tätigkeit her gesehen keine Kunst ‹brauchen›. Die Präsenz von Kunstwerken kann aber darauf aufmerksam machen, dass zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Phantasie und Erfahrung keine Kluft bestehen muss...». Und tatsächlich fügen sich die Kunstwerke unaufdringlich angenehm in den Campus ein und erfreuen so selbst Naturwissenschaftler. «Der blaue Platz» von Gottfried Honegger ist nur ein Beispiel dafür.

Warme Speisen in der Cafeteria

Bei aller Idylle des Campus, das Massenproblem hat nun leider auch den abgelegenen Irchel eingeholt. Letztes Jahr wurden Vorlesungen der Geisteswissenschaften vom Zentrum an den Irchel verlegt. Plötzlich sah sich die Gemeinschaft der Naturwissenschaftler mit aufgestylten Menschen konfrontiert, welche in ihr angestammtes Revier eindrangen. Natürlich kein Problem für die weltoffenen Naturwissenschaftler, sondern vielmehr eine willkommene Abwechslung. Also alles in Butter?

Nicht ganz, denn der Haken liegt im Detail. Und den erkennt man am besten, wenn man während des Semesters die Mensa besucht. Bevor man nämlich seine Miniportion auf den Teller geklatscht kriegt, darf man dafür anstehen. Und zwar nicht zu kurz. Die Schlange von hungrigen Menschen zieht sich manchmal von der Mensa über die Treppe hinunter bis ins untere Geschoss. Doch nicht genug, einmal in der Mensa angekommen, stehen sich die Leute auf den Füssen, es wird gerempelt und gestossen, Leute mit vollen Tellern versuchen angestrengt einen Weg durch die wuselnde Menge an die Kasse zu finden. Es macht den Eindruck, als sei die Mensa nicht für solch einen Ansturm konzipiert. Das hat auch die Uni-Leitung erkannt und man hat deshalb Massnahmen ergriffen. Man bietet nun in sämtlichen Cafeterias warme Speisen an. Zwar ist diese Massnahme sehr improvisiert, doch es zeigt, dass am Irchel Probleme schnell erkannt und praktische Lösungen gefunden werden.

Freies Land zur Überbauung

In naher Zukunft wird die mittlerweile fünfte Bauetappe realisiert. Diese beinhaltet den Bau zweier neuer Gebäude für die medizinische Forschung inklusive Labors mit Labortierhaltung. Damit holt man die medizinischen Forschungseinheiten aus dem Zentrum wieder zurück in den Schoss des Irchels, was weitsichtige Planung bedeutet, kann man hier sehen. Auch dreissig Jahre nach dem Spatenstich kann man expandieren und gegen Süden ist sogar immer noch Land zum Überbauen frei. Der Irchel wird also auch in den nächsten dreissig Jahren noch genügend Kapazitäten für neue Studierende haben. Werden dabei die Umweltbedingungen innerhalb der Biosphäre Irchel weiterhin optimal gewählt, kann man so noch Generationen von hochwertigen Superstudenten heranzüchten.