Luis Navarro

Fanmeilen, Freaks und Fussballpartys

An der EM führt diesen Sommer kein Weg vorbei. Doch ist dieser Fussballzirkus wirklich so toll? Ein nüchtern-ironisches EM-Märchen.

19. Mai 2008

Wir schreiben den 7. Juni 08. Ein entscheidender Tag in der Fussballgeschichte der Schweiz.

Verbleibende Zeit bis zum Anpfiff des Spiels «Schweiz gegen Tschechien»: Eine Stunde 13 Minuten und 28 Sekunden. Die Sonne scheint bei 30 Grad im Schatten. Das Limmatquai ist zum Bersten voll mit Fans und du fragst dich, ob man deshalb den Quai in «Fanmeile» umbenannt hat oder ob die ganze Zürcher Bevölkerung hier ist, weil der Quai jetzt «Fanmeile» heisst. Der Menschenstrom zieht dich in Richtung Bellevue. Alle wollen auf die Sechseläutenwiese zum Public Viewing. Von der Masse getragen denkst du darüber nach, wer entschieden hat, das Spiel in Basel auszutragen. Haben die etwa die längere Fanmeile oder haben das die beiden Stadtpräsidenten bei einem Töggeliturnier unter sich ausgemacht?

Plötzlich rempelt dich ein roter Kasten an. Die Menschenmenge ist so dicht, dass ihr wie Ölsardinen aneinander gepresst werdet. Aha, beim näheren Betrachten merkst du, es handelt sich um einen Schweizer Fan, einen so genannten Freak oder Groupie. Männlich, 1,80 Meter gross, fahnenrote Hautfarbe, Gesicht mit weissem Kreuz über Nase, Augen und Stirn, rot gekleidet. Auffällige Merkmale: Bierbecher an einer Schnur um den Hals sowie panisch blickende Augen. Vermutlich versucht er noch irgendwie nach Basel ins Stadion zu kommen.

Unaufhaltsam führt dich der Menschenstrom am Bellevue vorbei zur riesigen Leinwand, der Rettung für all jene, die keine Tickets für das offizielle Spiel bekommen haben. Oder die Rettung für sexy Mädels, die lieber Partys feiern als Fussball schauen. Dass es zur Zeit nur Fussballpartys gibt, ist für die Girls kein Problem. Sie zu erkennen ist für den Betrachter ebenfalls keines. Gross, Hochsteckfrisur mit Schweizerfähnchen drin, rot lackierte Fingernägel mit aufgeklebten, weiss glitzernden Kreuzchen, schmelzendes Make-up, weisser Minirock und rote Lackpumps. Besondere Merkmale: Sie glauben den 1. August zu feiern. Lassen wir sie in dem Glauben.

Aus der Traum vom feinen Bier

Momentan beschäftigt dich ohnehin die Frage nach einer kühlen Erfrischung mehr als die viel zu engen Tops und Miniröcke. Durstig in der heissen Sonne hoffst du auf ein feines Zürcher Paul Bier. Aber nix da, bei den offiziellen Public Viewings wird nur Carlsberg ausgeschenkt. Also entweder feines Bier ohne Fussball oder 0815-Bier mit Fussball. Den «Foifer und s’Weggli» gibts nämlich auch an der EM nicht. Dafür sorgen nicht nur gewisse Grossunternehmen und Organisationskomitees sondern auch die zum Dienst verdonnerten Polizisten und Securitas, die jetzt wahrscheinlich selber gerne im Basler Fussballstadion wären und zwar mit einem Ittinger Klosterbräu. Das zumindest verraten ihre Gesichtszüge, die sich hie und da in pseudoböse Blicke verwandeln.

Dir jedoch ist dies relativ egal, denn in der Zwischenzeit sind es noch sieben Minuten und 42 Sekunden bis zum Anpfiff. Die Spannung steigt bis ins Unermessliche, korrellierend mit dem Alkoholpegel der Fans. Auch der Moderator auf dem Bildschirm kanns kaum noch erwarten. Doch zuerst gibt es wie immer eine Konsum ankurbelnde Werbesequenz. Sie ist perfekt auf die Fanmeile zugeschnitten. Da wird denn auch berichtet von der UBS-Arena, in der du dich vor eine Zuschauertribühne auf einer Wand hinstellen und fotografieren lassen kannst. Im Continental Safety Center kannst du dich vorher sogar noch stylen lassen. Und wer weiss, vielleicht taucht dein Bild später auf der Canon Euro Wall auf. Dort sollen die besten Bilder nach und nach ausgestellt werden. Wenns nicht klappt mit der Modelkarriere und du frustriert sein solltest, bietet sich der Intersport Official Superstore zum Souvenirshoppen an. Dort findest du alles, was ein Fussballfanherz begehrt, du aber nicht brauchst. Ausgenommen natürlich ein anständiges Bier oder zumindest ein Bier nach freier Wahl. Unglücklicherweise hast du dich schon daran gewöhnt. Schliesslich konntest du auch nicht wählen, ob das bevorstehende Spiel in Basel, Genf oder Zürich stattfindet.

Anpfiff, das Spiel beginnt! Während der ersten 15 Minuten wendet sich kein einziger Blick der 45’000 Zuschauer, die das Public Viewing fasst, von der Leinwand. Die tschechische Mannschaft hat Mühe, sich gegen die Schweizer zu behaupten. Ganz ähnliche Probleme ergeben sich für dich. Die rigorosen Fans drängen dich immer weiter zurück in die hinteren Reihen, wo sich Familien, Rentner und uninteressierte Mitläufer tummeln. Deine Füsse versuchen sich indes gegen die unzähligen Fusstritte zu verteidigen und nicht zuletzt kämpft deine Nase gegen die penetranten Schweissgerüche in deiner Umgebung.

Aggressive Tauben und Hooligans

Zur Halbzeit wird dir der ganze Spass endgültig zu blöd und du entscheidest dich weiter zu ziehen, dieses Mal auf eigene Faust in Richtung Irchelpark. Sobald du die Fanmeile verlässt, wird es ruhig, fast zu ruhig. Von Zivilisation nur eine Spur: leere Petflaschen, Tüten von McDonalds, zerquetschte Pommes und sonstiger Müll, der überall auf den Gassen im Niederdörfli herum liegt. Tauben stürzen sich wie Geier auf Essensreste. Plötzlich kommen dir Szenen von wütenden Hooligans in den Sinn und für einen kurzen Augenblick schlägt dein Herz schneller, deine Pupillen weiten sich. Ein Blick zurück, keine Menschenseele weit und breit. Du brauchst keine Angst zu haben. Heute wird es keine Prügelknaben und keine Hooligans geben. Die werden sich eher in Basel vergnügen.

Der Einzige, vor dem du dich in Acht nehmen solltest, ist der genervte Anwohner kurz vor dem Central. Ihn erkennt man kaum, aber sein Heim verteidigt er bis aufs Letzte. Die Fensterläden sind verschlossen und die Sonnenstore des Balkons reicht bis zum Geländer hinunter, an dem eine Fahne verzweifelt um Ruhe und Respekt vor dem Eigentum der Anwohner bittet. Der Eigentümer bleibt auch friedlich, solange man ihn nicht reizt. Dass das jedoch nicht immer klappt, davon zeugen zersprungene Blumentöpfe und verwaiste Geranien.

Von all dem bekommst du nichts mehr mit, denn das 10er- Tram in Richtung Uni Irchel hält bereits am Central. Mit ein paar Sprüngen bist du im Tram. Nun ist alles gut. Einige Minuten lässt du die Bilder der vergangenen Stunden revue passieren und bist einfach froh, nicht mehr in dieser Menschenmenge herumgeschoben zu werden.

Der Weg zum Glück

An der Haltestelle Irchel steigst du aus und machst dich auf den Weg in den Park. Bei der Grillstelle prosten dir deine Freunde mit einem kühlen Paul Bier zu. Dank ihres Campingradios hast du das Privileg, in gediegener Atmosphäre den letzten 30 Minuten des Spiels zu lauschen. Relaxed und mit Genugtuung denkst du an die armen Seelen da unten in der Fanmeile. Sie stehen sich für das Einheitsbier die Beine in den Bauch, schieben fremde Ellbogen aus ihren abgenervten Gesichtern oder wälzen sich mit letzter Kraft durch den Menschenstrom. Dies alles in der utopischen Hoffnung, dass sie doch noch irgendwo die staatlich verordnete Feier in Angriff nehmen können.

Läck, bis froh, bisch nöd det.

Proscht!